Stunde der Patrioten: Die Politik bekämpft die Finanzkrise

Historische Stimmung in der Hauptstadt: Im Bundestag kommt es zu einer ganz großen Koalition für das Rettungspaket. Und auch wenn den Abgeordneten mulmig zumute ist - sie sehen sogar Chancen.
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„Die schwerste Bewährungsprobe seit den 20er Jahren“: Regierungschefin Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück im Bundestag.
Reuters „Die schwerste Bewährungsprobe seit den 20er Jahren“: Regierungschefin Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück im Bundestag.

BERLIN - Historische Stimmung in der Hauptstadt: Im Bundestag kommt es zu einer ganz großen Koalition für das Rettungspaket. Und auch wenn den Abgeordneten mulmig zumute ist - sie sehen sogar Chancen.

Berlin im Ausnahmezustand. Historische Vergleiche en masse: die größte Wirtschaftskrise seit den 20er Jahren, die schnellsten Notstands-Gesetze seit 1977. Die Finanzkrise schlägt voll auf die Bundespolitik durch. Gestern war im Bundestag die Stunde der Patrioten: Eine Koalition aller Fraktionen inklusive der Linken brachte die Eil-Milliarden-Gesetze zur Rettung der Banken auf den Weg.

Es hatte eine Weile gedauert, bis in Berlin – und bei den Bürgern – angekommen ist, welche Dimensionen die Krise hat. Aber jetzt: „Die Weltwirtschaft steht vor ihrer schwersten Bewährungsprobe seit der großen Krise in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts“, sagt Kanzlerin Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung. Sie bat die Abgeordneten, dem Schnellgesetzgebungsverfahren für das beispiellose 500-Milliarden-Paket zuzustimmen: „Es dient Deutschland.“ Gestern war die erste Lesung, heute wird es formell von den Ausschüssen beraten, am Freitag um acht Uhr ist die zweite und dritte Lesung – das ist bis auf den RAF-Herbst 1977 noch nie vorgekommen.

Die Kanzlerin: „Auf Deutschland kommt eine sehr schwierige Phase zu. Lassen Sie es mich deutlich sagen: Die Gefahr ist noch nicht gebannt.“ Und: „Es hat sich etwas gezeigt, was selten vorkommt: Der Staat war und ist die einzige Instanz, um das Vertrauen zwischen den Banken wiederherzustellen – und zwar zum Schutz der Bürger.“ Vor nicht allzu langer Zeit hatte die CDU-Chefin noch auf so wenig Staat wie möglich und „mehr Freiheit“ gesetzt.

"Löschen - auch bei Brandstiftung"

Dann ihr aktuelles Alter Ego, SPD-Finanzminister Peer Steinbrück – die beiden treten so eng abgestimmt auf, dass man den Eindruck hat, sie wären an den Schultern zusammengewachsen. Er nannte das Paket unverzichtbar: „Wenn es auf den Finanzmärkten brennt, muss gelöscht werden, auch wenn es sich um Brandstiftung handelt.“ Danach müssten aber die Brandstifter zur Rechenschaft gezogen und der Brandschutz verbessert werden. So müssten sich Unternehmen, die sich unter den Finanz-Schirm des Staates stellen, neue Regeln gefallen lassen – außer scharfen Kontrollmechanismen wird etwa an eine Obergrenze für Managergehälter gedacht. Für Steinbrücks Rede gab es ungewöhnlich langen Beifall – von allen Fraktionen.

Die FDP sprach von patriotischer Verantwortung. Am deutlichsten wird die Ausnahmesituation aber an der Linken: Während Unionspolitiker von Protesten ihrer Basis gegen das „Verbrennen von Steuergeldern“ berichten, wollte selbst die Linke nichts gegen das Milliarden-Paket sagen – nur noch schärfere Regeln für die Finanzbranche hätte sie gern. Oskar Lafontaine: „Das Wichtigste ist, dass der Geldkreislauf intakt bleibt, sonst leiden Rentner, Kleinbetriebe und Bedürftige.“ Norbert Röttgen (CDU): „Wir sind positiv überrascht von der Linken.“ Dazu Dietmar Bartsch (Linke): „Die Situation ist zu ernst, um es jetzt immer schon besser gewusst zu haben.“

Zwei Dinge störten aber die staatstragende Einigkeit. Erstens die Personalie Tietmeyer: Merkel wollte den Ex-Bundesbank-Chef eigentlich zum Vorsitzenden einer Experten-Gruppe machen, die neue Regeln für den Finanzmarkt erarbeiten soll. Bei der Verkündung des Namens gab es schallendes Gelächter im Bundestag – der sei als Aufsichtsrat der Krisenbank HRE ja wohl genau der Falsche, hieß es. Tietmeyer zog prompt seine Zusage zurück. Und zweitens die Länder: Vor allem Bayern sperrt sich nach wie vor beim Rettungspaket (siehe unten). tan

Was Münchner Abgeordnete sagen

Johannes Singhammer (CSU): „Die Woche erinnert mich an die Zeit nach dem Mauerfall. Die Dimensionen sind gewaltig, bei den Zahlen wird einem schwindlig. Was gut ist: Politik und Staat bekommen wieder mehr Bedeutung.“

Axel Berg (SPD): „Ich bin beängstigt und begeistert zugleich. Einerseits ist es ein Unding, was gerade passiert. Das Parlament gibt seine Kontrollfunktion auf. Andererseits finde ich gut, dass Deutschland so schnell und professionell handelt.“

Jerzy Montag (Grüne): Auch wenn wir allem zustimmen – es ist schon eine beispiellose Selbstentmachtung des Bundestags. Das ist die dramatischste Woche, die ich je im Parlament erlebt habe. Jetzt sitzen wir alle in einem Boot.“

Anja Timmermann

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