Lothar Matthäus im AZ-Interview: "Ungarn ist ein ziemlich fußballverrücktes Land"
Lothar Matthäus (59) wurde 1990 als Kapitän der deutschen Nationalelf Weltmeister. Seit vielen Jahren lebt der Sky-Experte in Ungarns Hauptstadt Budapest.
AZ: Herr Matthäus, Ungarn hat sich in den Playoffs doch noch für die EM qualifiziert und trifft in der Endrunde kommenden Sommer auf Deutschland, Frankreich und Portugal. Sie leben seit vielen Jahren in Budapest - welchen Stellenwert hat dieser Erfolg für das Land?
LOTHAR MATTHÄUS: Ungarn war schon bei der letzten EM 2016 dabei und hat sich bis ins Achtelfinale gekämpft. Nach vielen Jahrzehnten ist die Nationalmannschaft wieder regelmäßig für Turniere qualifiziert, das zeigt die positive Entwicklung. Dazu trägt auch Viktor Orbán (Ungarns Premierminister, Anm.d.Red.) bei, der oft kritisiert wird, aber den Sport sehr fördert. Ungarn ist ein ziemlich fußballverrücktes Land, in "normalen" Zeiten ohne Corona gehen die Menschen auf die Straße und zum Public Viewing. Ferencváros Budapest hat sich zudem endlich mal wieder für die Champions League qualifiziert.

Lothar Matthäus: Orbán fördert den Sport
Wie wurde der knappe 2:1-Sieg gegen Island in Ihrem privaten Umfeld in Ungarn aufgenommen?
Einige meiner Freunde haben ein paar gute Flaschen aufgemacht (lacht). Es ist einfach ein schöner Erfolg für das Land, in dem ich schon lange und sehr gern lebe. Man spürt hier die Lebensfreude der Menschen.
Welche Spieler sind für Ungarn besonders wertvoll?
Zwei kennt man aus der Bundesliga, aus Leipzig: Torhüter Peter Gulacsi und Verteidiger Willi Orban sind sicher die Stützen dieser Mannschaft. Hinzukommt noch Dominik Szoboszlai, der das entscheidende Tor gegen Island erzielt hat. Er ist ein Juwel, ein Typ wie Kai Havertz. In Ungarn wird er bereits mit dem großen Ferenc Puskás verglichen. Ein wirklich toller Spieler, der mal im Zentrum agiert und mal über die Außenbahn kommt. Im Januar könnte er zu RB Leipzig wechseln, aber ich bin davon überzeugt, dass ihn jeder europäische Topklub auf dem Zettel hat, auch der FC Bayern.
Wie groß sind denn die Chancen der Ungarn, bei der EM gegen Deutschland, Frankreich und Portugal zu bestehen?
So weit sollte man jetzt noch gar nicht vorausschauen. Natürlich ist es eine extrem komplizierte Gruppe für Ungarn gegen diese großen Gegner. Die ungarischen Fans sind froh, dass ihre Mannschaft überhaupt qualifiziert ist. Sie werden es genießen.
Schlagen zwei Herzen in Ihrer Brust?
Das Schönste wäre natürlich, wenn Deutschland und Ungarn in dieser Hammergruppe weiterkommen würden. Aber das wird ganz schwer.
Lothar Matthäus spricht über das Aus von Boateng beim FC Bayern
Schwer ist auch das Stichwort für Jérôme Boatengs Situation beim FC Bayern. Nun ist durchgesickert, dass sein am Saisonende auslaufender Vertrag nicht noch einmal verlängert werden soll. Die richtige Entscheidung?
Es ist nachvollziehbar. Der FC Bayern schaut nach vorne und setzt den Umbruch fort. Jérôme ist verletzungsanfällig und hat mit 32 ein gewisses Alter erreicht. Er hat in den vergangenen Jahren oft Kritik einstecken müssen, auch von mir, und das war auch berechtigt. Er hat sich aber immer professionell verhalten und unter Hansi Flick ein tolles Comeback gefeiert. Klar ist: Wenn neben Boateng auch David Alaba gehen sollte, braucht Bayern Ersatz.
An wen denken Sie?
Es gibt intern natürlich einige Lösungen: Lucas Hernández, Niklas Süle, Benjamin Pavard und den jungen Tanguy Nianzou. Was man so hört, muss Nianzou ja ein Riese sein, ein ganz großes Talent. Trotzdem bräuchte man noch Verstärkung von außen. Leipzigs Dayot Upamecano wäre sicher ein Spieler, der von seiner Qualität her sehr gut passen würde.
Der aber auch bei einigen Premier-League-Klubs begehrt ist.
Er hat eine Ausstiegsklausel, die es ihm erlaubt, für 50 Millionen Euro zu wechseln. Das wäre für Bayern zu stemmen. Ich habe ohnehin den Eindruck, dass die Bundesliga während der Pandemie Boden auf die Premier League gutgemacht hat. Man sieht an den Ergebnissen der deutschen Teams in der Champions League, dass man mithalten kann. Bayern, Dortmund, Leipzig und Gladbach spielen allesamt attraktiven, offensiven Fußball. Die Bundesliga glänzt - und ist deshalb auch für viele Topspieler attraktiv.