Für und Wider der Schuldenbremse: Wie schädlich ist sie für zukünftige Generationen?
München/Berlin - Mit Biegen und Brechen hat die Ampel-Koalition den Haushalt für 2023 und 2024 Ende vergangenen Jahres zusammengezimmert. Aktuell debattiert der Bundestag darüber, am Freitag soll final abgestimmt werden. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, welches das Umschichten von Sondervermögen seitens der Bundesregierung für ungültig erklärte, zwang die Ampel zu einer Reihe an Kürzungen. Denn: Aufgrund der seit 2009 im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse muss der Haushalt ohne Einnahmen aus Krediten ausgeglichen werden. Jährlich dürfen Schulden in maximaler Höhe von 0,35 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) gemacht werden.
Politisch verbleiben nach der Rüge aus Karlsruhe noch drei Optionen: Steuern anheben, Ausgaben an anderer Stelle kürzen oder die Schuldenbremse reformieren beziehungsweise abschaffen. Diese Frage wird nicht nur unter den Parteien, sondern auch unter den Ökonomen strittig diskutiert. Die Ampel hat sich für den Weg der Kürzungen entschieden - die Schuldenbremse soll für 2024 nicht ausgesetzt werden. 17 Milliarden Euro mussten dafür im Kernhaushalt 2024 eingespart und 12 Milliarden beim "Klima- und Transformationsfonds" gestrichen werden. Wie eine Umfrage des Münchner Ifo-Instituts ergab, sprechen sich 48 Prozent der deutschen Ökonomen dafür aus, die Schuldenbremse beizubehalten. 44 Prozent plädieren hingegen für eine Reform, vier Prozent sind sogar für eine gänzliche Abschaffung.
Für und Wider der Schuldenbremse: "Schulden können nicht zum Staatsbankrott führen"
Fürs Abschaffen setzt sich etwa der Berliner Ökonom Dirk Ehnts ein. Er ist Experte für Staatsdefizite und Geldschöpfung. "Die Schuldenbremse ist keine ökonomisch sinnvolle Regel", sagt Ehnts der AZ. "Die Nachhaltigkeit der Staatsausgaben ist durch die Rolle der EZB gegeben, die mit ihren Ankaufprogrammen die Zahlungsfähigkeit der Bundesregierung unabhängig vom Schuldenstand sicherstellt." Schulden können demnach also nicht zum Staatsbankrott führen. Außerdem sieht er in der Regel ein demokratisches Defizit: "Das Haushaltsrecht liegt beim Parlament, eine Einschränkung der Staatsausgaben beschränkt die Macht des Parlaments."
Auch Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, ist ein Kritiker der Schuldenbremse. Ihm zufolge braucht es eine Reform: "Die Schuldenbremse ist nicht mehr zeitgemäß, sie ist zu einer Gefahr für den wirtschaftlichen Wohlstand Deutschlands geworden." Wegen des Klimawandels brauche es dauerhafte zusätzliche Investitionen. Diese werden jedoch dadurch verhindert, dass ein Aussetzen der Schuldenregel eine unvorhersehbare und temporäre Notlage voraussetzt. Laut Bundesverfassungsgericht erfüllt der Klimawandel diese Kriterien nicht. "Eine kluge und zielführende Schuldenregel muss in der Zukunft zwischen Konsum und Investitionen unterscheiden", sagt Fratzscher.

Ifo-Chef Clemens Fuest: Vieles würde fälschlicherweise zur Investition erklärt werden
Clemens Fuest, der Chef des Münchner Ifo-Instituts, ist hingegen dafür, die Schuldenbremse in ihrer jetzigen Form "trotz ihrer Mängel" beizubehalten. "Die eine ideale Schuldenregel gibt es nicht", sagt Fuest der AZ. Weiter führt er aus: "Die geltende Schuldenbremse hat den Vorteil, relativ einfach und nachvollziehbar zu sein. Falls plötzliche größere Ausgabenbedarfe wie etwa nach der deutschen Einheit oder nach dem russischen Angriff auf die Ukraine entstehen, kann man mit Zweidrittelmehrheit des Bundestags immer zusätzliche Schulden aufnehmen."
Als Nachteil sieht der Ifo-Chef hingegen, dass die Bremsen-Regelung nicht danach unterscheidet, für welchen Zweck Schulden aufgenommen werden. Für besonders kritisch hält der Ökonom die Einschränkung, dass das Geld für Notfälle in dem Jahr noch verwendet werden muss, in dem es erforderlich wurde, da Notsituationen "häufig höhere Ausgaben über mehrere Jahre hinweg" benötigen. Gegen eine Reform ist Fuest dennoch, da eine Ausnahme für Investitionen das Problem mit sich brächte, dass vieles fälschlicherweise zu Investitionen erklärt würde.

Auch bei den Parteien herrscht Uneinigkeit über den Sinn der Schuldenbremse. Zu den klaren Befürwortern zählt unter anderem die FDP. Eine Ausnahmeregelung für Investitionen sieht Parteichef und Finanzminister Christian Lindner als eine "Einladung zu uferloser Verschuldung, die am Ende die Generation der Kinder und Enkel belastet". Auch CSU-Generalsekretär Martin Huber sagt auf Anfrage der AZ: "Die Schuldenbremse muss bleiben! Wir dürfen finanzpolitische Solidität und Generationengerechtigkeit nicht aufgeben." Laut CSU sind Investitionen in die Infrastruktur und Zukunft auch ohne neue Schulden möglich. Stattdessen müssten Ausgaben gekürzt werden, etwa durch eine Reform des Bürgergelds und eine Abschaffung des Heizgesetzes.
Die CDU schließt sich dem Bekenntnis zur Schuldenbremse an: "Mit dem Geld auskommen, das er einnimmt", lautet die Forderung von Generalsekretär Carsten Linnemann bezüglich des Staatshaushalts. Seine Partei argumentiert ebenfalls mit der Kostenbelastung für zukünftige Generationen. Für einen Erhalt der Schuldenbremse wirbt auch die AfD, um so "die Haushaltsdisziplin zu wahren und die finanzielle Freiheit der Bürger zu schützen", wie es auf Nachfrage der AZ heißt. Aus Sicht der AfD sollte die Schuldenbremse zudem um eine verbindliche Steuer- und Abgabenbremse erweitert werden.
Wie gerecht ist die Schuldenbremse für zukünftige Generationen?
Für eine Reform plädieren unter anderem die Grünen. "Die Summe aktueller Krisen, gepaart mit dem Modernisierungsstau der letzten Jahre, macht eine atmende Schuldenbremse nötig, die zwar Konsumausgaben deckelt, aber notwendige Investitionen ermöglicht", sagt Parteivorsitzender Omid Nouripour. Die SPD-Bundestag-Fraktion hat erst kürzlich auf ihrer Fraktionsklausur beschlossen, dass sie sich für eine Überarbeitung der Schuldenbremse einsetzen wird. "Die derzeit starren Regeln der Schuldenbremse sind ein Wohlstandsrisiko für jetzige und kommende Generationen, indem sie nicht genügend Spielräume für starke Zukunftsinvestitionen ermöglichen", sagt Fraktionschef Rolf Mützenich. Es seien "massive Investitionen" erforderlich, um "nachhaltige Infrastruktur, gute Schulden und wettbewerbsfähige Betriebe" für die künftigen Generationen zu schaffen.
Die Linke fordert gar eine Abschaffung der Schuldenbremse. "Wir wissen, dass jeder Euro, den wir heute beispielsweise in Klimaschutz investieren, ein Mehrfaches an Kosten durch vermiedene Klimaschäden vermeidet", sagt Martin Günther, Ökonom für die Linke, der AZ. Diese Investitionen wären selbst durch eine Vermögenssteuer nicht durch laufende Einnahmen zu finanzieren, sagt Günther.
Die Debatte offenbart die ökonomische Gretchenfrage: Wie schädlich sind Schulden für die Zukunft wirklich? Die Belastung für zukünftige Generationen wird schließlich sowohl als Grund für den Erhalt der Defizitgrenze als auch für ihre Abschaffung angeführt. Einigkeit unter den Wirtschaftswissenschaftlern besteht zumindest in der Feststellung, dass Staatsschulden an sich nichts Verwerfliches sind, sondern ein finanzpolitisches Instrument. Sich dieses Werkzeugs nur bedingt bedienen zu können, bedeutet zunächst politisch verkleinerte Handlungsspielräume. Das spiegeln auch die geschrumpften Etats der Ministerien wider.