Michel Friedman: "Mit diesem Mann als Parteivorsitzenden kann ich kein Mitglied mehr sein"
Man kennt ihn als Autor, Moderator und Philosoph: Michel Friedman, Rechtsanwalt und von 2000 bis 2003 stellvertretender Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland. Die AZ hat mit dem 69-Jährigen über sein neues Buch gesprochen, seine "Liebeserklärung eines verzweifelten Demokraten".
AZ: Herr Friedman, Ihr Vater, ein Überlebender des Holocaust, hat Ihnen geraten, den "Führerschein des Lebens" zu machen. Was hat er damit gemeint?
MICHEL FRIEDMAN: Dass das Leben etwas Außerordentliches ist, ein Geschenk, ein Angebot. Aber gleichzeitig auch, dass es Chaos bedeutet und Chaos wiederum Risiko und Gefahr. Und dass man diesen Führerschein des Lebens nur machen kann, wenn man durch Erfahrung und Nachdenken erkennt, dass der Mensch Gefühle hat – und damit auch Kontrollverluste. Trotzdem riet er mir: vertraue dem Leben und vertraue den Menschen.
Friedmann: "Der Lebensführerschein ist immer nur auf Probe"
Wann war das?
Zu einer Zeit, in der die Generation der Nazis in der Bundesrepublik eine Hochkonjunktur für weiße Farbe hervorgerufen hat, um ihre braunen Tapeten zu überstreichen. Um ihre Biografien in Legenden umzumünzen und im Schweigen der Familien und der Öffentlichkeit zu verharren. Als wir in den 60er-Jahren nach Deutschland kamen, war ich konfrontiert mit Lehrerinnen und Lehrern, die auch in der Nazizeit Lehrer gewesen waren. Ich musste mir die Frage stellen, was hätten die denn mit mir gemacht 1939? Ich war konfrontiert mit Hochschulprofessorinnen und -professoren, die in einer Zeit Jura gelehrt hatten, in der es in Deutschland überhaupt kein Recht mehr gab. Als ich mit meinem 18. Lebensjahr meine Einbürgerungsurkunde bekam, gab es in dieser Verwaltung viele Mitarbeitende aus der Nazizeit. Ich glaube, mein Vater baute damals auf die junge Generation. Also auf die heute 60- bis 70-Jährigen, die ihre Eltern zu Recht angegriffen und gesagt haben: Wehret den Anfängen! Nie wieder! Auf diejenigen, die versprochen haben, dass sie gelernt hätten.
Ich erhebe meine Stimme für den schönsten Satz, den ich kenne: Die Würde des Menschen ist unantastbar.
Haben sie Wort gehalten?
Nein, die große Mehrheit nicht. Hätten sie ihr Versprechen immer wiederholt und gehalten, wenn Gewalt ausgeübt wurde, wären wir heute nicht, wo wir sind. Insofern ist der Lebensführerschein immer nur auf Probe.
"Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der diejenigen gewinnen, die Menschen hassen und sie vernichten wollen"
Stichwort Gewalt: Sie erheben Ihre Stimme seit langer Zeit gegen Extremismus, sind dafür beschimpft sowie bedroht worden und zwei Mal einem Attentat entgangen. Warum machen Sie immer weiter?
Ich erhebe meine Stimme für den schönsten Satz, den ich kenne: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der diejenigen gewinnen, die Menschen hassen und sie vernichten wollen. Ich möchte in keiner Welt leben, in der Gewalt legitimierbar ist, weil eine kleine Gruppe bestimmt: Gegen diese Menschen dürfen wir Gewalt ausüben, weil sie keine Menschen sind. Ich möchte in einer Welt leben, in der ich frei bin und jeder Mensch in Frieden lebt. In einer Demokratie. Das geht aber nur, wenn das die Mehrheit auch will und es die Eindeutigkeit einer Gesellschaft ist. Doch die zerbröselt gerade. Deswegen ist der logische Schluss: Ich muss noch mehr machen.
"In der Diktatur ist der Mensch ein Nichts, in der Demokratie alles"
Haben Sie deswegen jetzt Ihre "Liebeserklärung eines verzweifelten Demokraten" geschrieben?
Ja. Ich liebe die Freiheit und praktiziere sie jeden Tag, mit Hunderten Entscheidungen, die mir gar nicht als Freiheiten bewusst sind. Und niemand sagt mir: Du hast die falsche Entscheidung getroffen, denn der Staat oder ich oder die Polizei finden, so geht das nicht. Ich liebe die Freiheit, weil in ihr die Gleichheit steckt. Ich liebe die Gerechtigkeit. Ich liebe die Freiheit, weil ich Fehler machen und daraus lernen kann. Ich mache einen Fehler und bin dadurch nicht automatisch tot, weil irgendein Diktator das so will. Ich bin so glücklich, frei zu sein, weil ich Nein sagen kann oder auch Ja. Beides gefährdet mich nicht. Ich bin so glücklich frei, weil ich mitbestimmen kann, weil meine Stimme im Raum möglich ist. Weil es Instrumente zur Gegenwehr gibt: Ich kann gegen jeden Verwaltungsbescheid des Staates vor Gericht gehen, selbst wenn ich ein Knöllchen bekomme, weil ich falsch parke. Ich könnte diese Liste unendlich fortsetzen. Und ich liebe diese Art zu leben. Die schlechteste Demokratie ist mir immer noch lieber als die beste Diktatur, weil die Demokratie dem Menschen zugewandt und der Mensch in der Diktatur völlig gleichgültig ist. Ein Nichts. In der Demokratie ist der Mensch alles.
Die AfD sagt offen und laut: Die Würde einiger Menschengruppen ist antastbar
Dennoch ermöglicht sie den demokratisch legitimierten Einzug von Demokratiefeinden in die Parlamente, siehe AfD.
Die AfD ist zwar demokratisch gewählt, doch dadurch wird sie nicht automatisch eine demokratische Partei. Wir haben den Artikel 1 des Grundgesetzes gerade angesprochen. Jeder Demokrat unterschreibt unsichtbar: Die Würde des Menschen ist unantastbar. Die AfD sagt offen und laut: Die Würde einiger Menschengruppen ist antastbar. Mit einer Partei, die das sagt, kann es kein demokratisches Verfahren geben und damit auch keine Zusammenarbeit. Artikel 1 und Artikel 20 haben Ewigkeitswert.
Wo Rechtsextremisten am Ruder waren, "haben sie mit Gewalt die Demokratie entzaubert"
Artikel 20 garantiert die Gewaltenteilung, das Rechtsstaatsprinzip.
Und auch ihn wollen die Rechtsextremisten zerstören. Victor Orbán hat in Ungarn nichts schneller gemacht, als den Rechtsstaat einzuschränken, genau wie Jaroslaw Kaczynski in Polen. Auch Donald Trump versucht in den USA, den Rechtsstaat als korrektive Gewaltenteilung zu relativieren. Insofern ist die politische Einordnung der AfD eindeutig. Wer daraus etwas Zweideutiges machen will, wer relativiert, nach Erklärungen sucht, um es trotzdem mit denen zu versuchen, zerstört die Demokratie endgültig. Und denen, die sagen: Lasst sie doch mal ran, dann entzaubern sie sich, empfehle ich, alle Länder anzuschauen, wo sie dran waren. Dort haben sie mit Gewalt die Demokratie entzaubert.
Das Buch hat eine gewisse zeitliche Nähe zu ihrem Austritt aus der CDU, die ja eine Reaktion darauf war, dass der heutige Bundeskanzler Friedrich Merz den Entschließungsantrag zur Migration im Januar mit Hilfe der AfD durch den Bundestag gebracht hat.
Ja, aber das Buch ist nicht deswegen entstanden. Damals habe ich bereits daran geschrieben.
Hadern Sie eigentlich manchmal mit dem Austritt? Sie waren seit 1983 Mitglied und zeitweise sogar im Bundesvorstand.
Beziehungen jeglicher Art – ob private oder kollektive – sind doch nicht statisch. Alles ist dynamisch, ich auch.

"Helmut Schmidt - wie ich finde ein großartiger Bundeskanzler"
Was wollen Sie damit sagen?
Als ich in die CDU eingetreten bin, gab es einen grundsätzlichen Punkt, um den in der politischen Debatte gestritten wurde: den Nato-Doppelbeschluss. Es war die SPD, die Helmut Schmidt – wie ich finde einem großartigen Bundeskanzler – nicht mehr folgen wollte, woran die Koalition zerbrach. Dann kam Helmut Kohl, der den Nato-Doppelbeschluss als einzige Möglichkeit empfand und zusätzlich die Frage stellte: Stehen wir zum Bündnis der westlichen Demokratien – oder nicht? Das war für mich eine elementare Frage, denn ich bin bis heute der Meinung, dass Deutschland nur eine Zukunft hat, wenn es Teil eines demokratischen westlichen Bündnisses ist.

Friedman über Merz: "Mit diesem Mann als Parteivorsitzenden kann ich kein Mitglied mehr sein"
Wie ging die Dynamik weiter?
In vielen Fragen waren die CDU und ich auch nicht kompatibel. Aber deswegen tritt man nicht aus. Ich hatte mit Roland Koch, als er seinen Ausländerwahlkampf gemacht hat, der eindeutig ausländerfeindlich war, einen öffentlichen Streit in allen Sendungen. Und ich hatte mit Helmut Kohl meine Konflikte, der bei Bitburg NS-Gräber besuchen wollte, weil er Ronald Reagan nicht verstimmen wollte. Aber er hat die Überlebenden verstimmt. Das ist der normale politische Streit. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass viele Punkte der normalen streitbaren Politik der CDU nachvollziehbarer sind als die anderer Parteien. Aber im Januar wurde das Fundament infrage gestellt, nämlich die Behauptung, man sei eindeutig, was die AfD angehe. Herr Merz hat sich anders entschieden und eine parlamentarische Mehrheit mit der AfD gebildet. Mit diesem Mann als Parteivorsitzenden kann ich kein Mitglied mehr sein.

Hat Herr Merz damals an der Brandmauer gerüttelt?
Es geht nicht um die Brandmauer, sondern um die Handlung an sich: Demokratische Parteien, die CDU und auch die CSU, haben zum ersten Mal eine Mehrheit mit einer antidemokratischen Partei billigend in Kauf genommen. Das ist ein Tabubruch, dessen Tragweite und Gefährlichkeit ich ihnen vorwerfe. Allen, die mitgestimmt haben. Aber die AfD ist nicht die einzige Gefährdung unserer Demokratie. Es gibt eine zweite, die ich für die essenzielle halte.
"Die Demokratie geht nicht an der AfD kaputt. Sie wird an den Gleichgültigen kaputt gehen"
Auf welche zweite Gefährdung spielen Sie an?
Wenn es stimmt, dass bis zu 80 Prozent der Menschen nicht für die AfD sind, dann könnte man ja den Schluss ziehen, dass sie viel lauter sind als die AfD. Aber die 80 Prozent sind leise. Weil sie teilweise aus gleichgültigen Demokratinnen und Demokraten bestehen. Oder aus dekadenten Demokraten, die gerne leben, aber nichts geben. Oder aus Demokraten, die gar nicht mehr wissen, was sie unter Demokratie verstehen. Seit 60 Jahren empfinden die Menschen Freiheit und Sicherheit als selbstverständlich, und dass der Staat sich um sie kümmert. Sie haben sich keine Gedanken mehr gemacht, sondern sich Jahrzehnte lang vorwiegend über Werte wie Konsum, mehr Gehalt, ein bequemeres Leben unterhalten. Wann haben wir in der Bundesrepublik in den letzten 20 Jahren alltägliche politische Streitkultur geübt? Wo sind die großen Debatten gewesen? Wir wollten sie nicht. Wir waren müde und bequem. Aber die, die die Demokratie zerstören wollen, haben nie aufgehört und nicht nur in Deutschland. Die Demokratie geht nicht an der AfD kaputt. Sie wird an den Gleichgültigen kaputt gehen. Deshalb empfinde ich es nicht als meine Aufgabe, mich an der AfD abzuarbeiten, sondern wie ein kleiner Handelsvertreter jeden zu fragen: Was willst du sein, frei oder unfrei?
Ich liebe die Freiheit! Du nicht? Dann lass uns streiten!
"Im Moment streiten wir uns nicht um die wichtigen Fragen, sondern wir blaffen uns an"
Haben Sie das Gefühl, Sie finden Gehör?
Wir reden doch gerade miteinander.
Stimmt.
Man darf sich da auch nicht überhöhen. Meine Arbeit ist nur ein kleines Mosaiksteinchen. Andere forschen in ihrem Dorf über die Nazis oder engagieren sich ehrenamtlich beim Kinder- und Jugendwerk Arche. Aber sehr, sehr viele im Bürgertum machen eben nicht mit. Dabei könnte man einfach ein kleines Schildchen in der Fußgängerzone aufhängen mit der Aufschrift: Ich liebe die Freiheit! Du nicht? Dann lass uns streiten! Können wir das nicht jeden Samstag mit 20 Leuten hinbekommen? Nur über die Mobilisierung der Demokraten wird die Demokratie gerettet. Antidemokraten und Extremisten sind nie an die Macht gekommen, weil sie die Mehrheit hatten, sondern weil die Mehrheiten eingeschlafen sind, mitgemacht haben, opportunistisch waren. Das kann uns heute wieder passieren.
"Der Mensch macht mir Hoffnung. An Gott glaube ich nicht"
Demnach brauchen wir eine neue Streitkultur?
Eine Streitkultur mit Respekt, Neugierde, Argumenten und Realität – aber ohne den Zwang, recht haben zu müssen. Im Moment streiten wir uns nicht um die wichtigen Fragen, sondern wir blaffen uns an. Es gibt immer nur entweder oder. Das Schlimmste ist, dass wir das Entweder-oder mit richtig und falsch oder gut und böse moralisieren. Wir sind konfrontativ und nicht kooperativ. Wir schaffen es nicht auszuhalten, dass der andere ganz anders denkt, und trotzdem Brücken zu bauen.
Nörgeln Sie mal in einer Diktatur
Welche Konsequenzen hat das?
Streit in einer Streitkultur ist der Sauerstoff der Freiheit und der Demokratie. Weil wir uns aber nicht mehr in dieser Form revitalisiert haben, merken wir gar nicht, dass in unseren Sprach- und Denkgebrauch eingesickert ist, was uns vor zehn Jahren noch getriggert hätte. Doch wenn wir uns nicht glänzenden Auges an dieses wunderbare Buch Grundgesetz halten, an die Menschenrechte, werden wir sie verlieren.
"Millionen von Nörglern müssten für die Demokratie kämpfen, damit sie weiter nörgeln können"
Was macht Ihnen Hoffnung?
Der Mensch. An Gott glaube ich nicht. Aber ich bin ein Mensch und würde ich den Menschen verachten, müsste ich mich verachten, mich aufgeben. Könnte ich den Menschen nicht vertrauen, wäre das ein furchtbares, ein vergiftetes Leben. Ich möchte mich aber am Leben erfreuen. Nichtsdestotrotz weiß ich natürlich, wozu der Mensch fähig ist, das steckt in meiner Familien-DNA. Aber man kann ja nicht sagen, dass diese Bundesrepublik, ihre Strukturen und die Mehrheit der Menschen so sind, wie 1933 bis 1945. Das ist doch ein unglaublicher Schub an Motivation. Was mich so verzweifeln lässt, ist, warum die Menschen diesen Schub nicht empfinden und den Zustand der Freiheit nicht verteidigen. In Freiheit kann man sogar den ganzen Tag nörgeln. Nörgeln Sie mal ein einer Diktatur... Schon deswegen müssten doch allein Millionen von Nörglern für die Demokratie kämpfen. Damit sie ihr Hobby weiterbetreiben können: nämlich das Nörgeln.
Michel Friedman: „Mensch! Liebeserklärung eines verzweifelten Demokraten“ ist im Berlin Verlag erschienen und kostet 25 Euro. Am 26. Oktober stellt er das Buch ab 11 Uhr im Literaturhaus München vor.