Oktoberfest: Die wahre Geschichte des Anzapfens und seine Mythen

Audio von Carbonatix
Der Höhepunkt des Münchner Jahres dauert gerade mal drei Sekunden – und endet (fast) immer mit „Ozapft is!“, wenn das erste Fass auf dem Oktoberfest angezapft ist.
Dieses Ritual erfand am 16. September 1950 Oberbürgermeister Thomas Wimmer, der damals – so jedenfalls lautet eine gerne kolportierte München-Legende – angeblich gemütlich auf die Wiesn spazierte, als ihn die Kutsche des Schottenhamel-Wirtes überholte. „Ja Herr Wimmer, warum gehen‘S denn zu Fuß? Steigen‘S doch ein“. Und am Schottenhamelzelt angekommen sagte der Wirt: „Und wenn‘S schon da sind, dann zapfen‘S doch gleich an!“ Was der Wimmer Damerl dann auch tat. Also, angeblich...
Das Ganze ist alles falsch – diese schöne Geschichte stimmt so einfach nicht. Im Nachlass des Fotografen Rudi Dix wurde nämlich ein Leica-Filmstreifen entdeckt, der das offizielle Anzapf-Geschehen als ein allzu schönes Wiesn-Märchen entlarvt hat.
Die schönsten Anzapf-Märchen und -Mythen
Zum 190. Oktoberfest erzählt die AZ aber nicht nur die schönsten Anzapf-Märchen und -Mythen, sondern auch die Geschichten vom explodierten Bierfass mit Schaumkatastrophe bei OB Hans-Jochen Vogel, vom durchlöcherten Maßkrug bei OB Georg Kronawitter und vom verrücktesten Anzapfen 1981, als OB Erich Kiesl nach fünf nervösen Schlägen ins Mikrofon schrie: „Obatzt is!“ Viel Spaß beim Schauen und Schmökern – über Mythen, Märchen und die Magie vom „Ozapft is!“.
OB Thomas Wimmer: Das erste Märchen vom „Ozapft is“ – und das zweite Märchen vom Fußmarsch
Den Beweis, wie das erste Anzapfen wirklich abgelaufen ist, lieferte der Fotograf Rudi Dix, der damals Thomas Wimmer für den „Münchner Merkur“ am 16. September 1950 den ganzen Tag begleitete und fotografierte. In seinem Nachlass im Münchner Stadtarchiv ist ein Negativ-Filmstreifen erhalten. Dort ist Bild für Bild zu sehen, wie und woher Wimmer zum Anzapfen im wahrsten Sinn des Wortes gestolpert ist: Den Hut tief ins Gesicht gezogen, gestützt auf einen Regenschirm klettert er mit grantiger Miene und brennender Zigarre den Abhang zum Schottenhamelzelt hinunter.

Oben im Messegelände hatte er gerade um 11 Uhr eine Elektromesse eröffnet, um sogleich auf dem kürzesten Weg den Berg hinunter direkt ins Schottenhamel-Zelt zu eilen.
Auf dem letzten Negativ steht Wimmer schon vor dem Bierfass, bevor er dann draufhaut: „Ozapft is!“
Das erste Anzapfen war gut geplant
Bereits eine Woche vor dem ersten Anzapfen schrieb am 9. September 1950 Ernst Hess in der „Süddeutschen Zeitung“, dass am nächsten Samstag Thomas Wimmer um 12 Uhr im Schottenhamel-Zelt das erste Fass Bier anzapfen und damit das Oktoberfest eröffnen wird. Und der „Merkur“ berichtete am 18. September: „Im Schottenhamel lag neben dem ersten Bantzen ein nagelneuer Schlegel und ein funkelnder Messinghahn bereit.
In einem Wetterleuchten von Blitzlichtern, umringt von Münchner Kindln und Fotografen band sich Oberbürgermeister Thomas Wimmer schmunzelnd den Schurz um, krempelte die Hemdärmel auf und zapfte mit ein paar kräftigen Schlägen an. Die erste Maß widmete er dem Oktoberfest und der Stadt München.“
Die alte Bier-Hierarchie auf dem Kopf
Das Sensationelle beim ersten Anzpafen war: Wimmer stellte dadurch die Bier-Hierarchie auf den Kopf: Vor ihm wäre kein Politiker oder Promi auf die Idee gekommen, ein Fass Bier anzuzapfen. Politiker standen in der Hierarchie ganz oben mit den Brauereibesitzern, danach kamen die großen Wirte und bei deren Personal an unterster Stelle die Schenkkellner.

Dass Wimmer die Hemdsärmel hochkrempelte, selbst den Schlegel in die Hand nahm und ein Fass Bier anzapfte, hatte 1950 die gleiche Symbolkraft wie er zwei Jahre zuvor die Schaufel packte und beim „Ramadama“ den Kriegsschutt wegräumte.
Wimmer wollte damit zeigen, dass sich in diesem Nachkriegselend niemand zu einer niedrigen Arbeit wie der eines Schenkkellners zu schade sein darf. Jeder musste genauso wie er selbst die Ärmel hochkrempeln, Schutt räumen und wie ein einfacher Schenkkellner anzapfen und Bier ausschenken. Letztlich war das Anzapfen für Wimmer ein politischer Akt.
Wimmers Fußmarsch aufs Oktoberfest
Dass der Wimmer Damerl tatsächlich einmal zu Fuß zum Anzapfen ging, wie es im ersten Wiesn-Märchen erzählt wird, verdanken wir wieder dem Fotografen Rudi Dix, der ihn dabei begleitete und als einziger die peinliche Geschichte für die Nachwelt verewigte. Das war aber nicht 1950, sondern erst 1957, als die Schottenhamel-Kutsche am Stachus 10 Minuten zu früh gestartet und dem Wimmer davongefahren war! Grantig und schwitzend stapfte er dann durch die Schwanthalerstraße raus auf die Wiesn, wo er gerade noch rechtzeitig zum Anzapfen ankam...
Die erste Maß für den Landesvater?
Und noch so eine Wiesnlegende: Die erste Maß gebührt stets dem Ministerpräsidenten. Leider auch falsch. Wenn OB Dieter Reiter heute „Ozapft is“ ruft, dann bekommt die erste Wiesnmaß „traditionell der Bayerische Ministerpräsident“ – zur Zeit Markus Söder. Doch bei jedem Satz, der in München mit „traditionell“ beginnt, ist Vorsicht geboten.
Die Geschichte der ersten Wiesnmaß ist viel lustiger als „traditionell“ – und so entstand das Wiesn-Märchen: Beim ersten Anzapfen 1950 war Thomas Wimmer vor dem Bierfass nur „umringt von Münchner Kindln und Photographen“ und die ersten Anzapf-Promis saßen schon in der Ratsboxe, darunter Ministerpräsident Ehard, der amerikanische Landeskommissar George Shuster und Bürgermeister von Miller. Bayerns Ministerpräsident bekam aber nicht die erste Maß, sondern „nur“ das erste Wiesn-Hendl! Der „Münchner Merkur“ schrieb: „Das erste Wiesnhendl erhielten Ministerpräsident Dr. Ehard und seine Gattin.“

Und die erste Maß? Die erste Wiesnmaß widmete Thomas Wimmer (fortan) jedes Jahr „dem Oktoberfest und der Stadt München“ und trank sie dann alleine.
Erst im Laufe der Jahre standen in der Anzapfbox neben der Familie Schottenhamel dann auch der jeweils amtierende Ministerpräsident sowie der 2. und 3. Bürgermeister. Aber alle bekamen gleichzeitig die ersten Maßkrüge und prosteten sich zu. Auch bei OB Hans-Jochen Vogel und OB Georg Kronawitter änderte sich nichts an diesem Ritual, bis ab 1978 Erich Kiesl anzapfte.
OB Vogel: Erst nach vier Jahren trat er an
Hans Jochen Vogel wurde am 21. März 1960 mit 64,3 Prozent zum Oberbürgermeister gewählt, aber Anzapfen auf dem Oktoberfest kam für ihn erst mal gar nicht in Frage: „Ozapfa, des is dem Wimmer sei Sach!“ war sein Spruch, was den Münchnern sehr gefiel. Vier Jahre lang stand er als Münchner Oberbürgermeister neben dem Fass in zweiter Reihe und schaute dem Erfinder des Wiesn-Anzapfens über die Schulter. Erst nach dem Tod seines Amtsvorgängers nahm er 1964 selbst den Schlegel in die Hand.
1969 stellte sich erstmals die Frage: Wer zapft eigentlich an, wenn der OB mal verhindert ist? Am Vormittag des Eröffnungstages 1969 war nämlich auf der U-Bahn-Baustelle in Schwabing ein Großbrand ausgebrochen, über den sich Vogel einen Überblick verschaffen wollte, nicht dass es heißt „da brennt die halbe U-Bahn ab und der OB geht zum Durstlöschen auf die Wiesn“. Nicht so Hans Jochen Vogel.

Bis kurz vor zwölf schaute er dem Feuer zu, dann rein in die Funkstreife und mit Blaulicht und Sirene raus auf die Wiesn! Die Stellvertreter Dr. Steinkohl und Albert Bayerle hatten gerade zu knobeln begonnen, wer denn nun dran ist. Aber wie vom Himmel gefallen stand Vogel plötzlich neben dem Fass: „Einen Schritt zurück bitte“ – und „Ozapft is!“
Anzapfbox wird ein Bierschaumbad
Bei seinem letzten Anzapfen 1971 verwandelte der stets korrekte Anzapfer Vogel die Anzapfbox in ein Bierschaumbad, wie es das Oktoberfest noch nie erlebt hatte. Alles begann ganz ruhig: Punkt Zwölf trieb er den Bierhahn mit drei wuchtigen Schlägen in das Fass.
Dann passierte es: Beim Versuch die erste Maß einzuschenken schoss eine gigantische Schaumfontäne aus dem Hahn: Vogel triefte vom Haarschopf bis zu den Zehen.
Alle Brillenträger fuchtelten schaumgekrönt mit den Armen im Kreis herum und auch die Fotografen waren außer Gefecht, denn ihre Kameras trieften wie die Gäste von Bierschaum. Servietten, Taschentücher, Tischdecken wurden herumgereicht, bis nach einigen Minuten vorsichtig die ersten Maßkrüge gefüllt waren und der abgetrocknete Vogel zum letzten Mal ausrufen konnte: „Ozapft is!“
OB Kronawitter: Ein Loch ist im Maßkrug!
Während Georg Kronawitters erstes Anzapfen 1972 ganz professionell mit drei Schlägen erledigt wurde, endete das zweite Anzapfen 1973 mit einem schallenden Gelächter in der Anzapfbox: Kronawitter schlug mit drei kräftigen Schlägen den Wechsel ins Fass, schenkte die ersten Maßkrüge ein und reichte sie den Promis hinterm Schanktisch.
Dann schwenkte er seinen Maßkrug im ausgestreckten Arm nach links, nach rechts und in die Höhe – und merkte nicht, dass aus dem Boden seines Maßkrugs das Bier in einem schönen Strahl wieder heraustropfte!

Ministerpräsident Alfons Goppel bog sich vor Lachen und konnte der Bierdusche gerade noch ausweichen und erst dann merkte auch der „Schorsch“ dass da was nicht stimmte. Das Loch war ein vier Zentimeter langer Schlitz, ein Fehler beim Brennen des Kruges. Den kuriosen Maßkrug rettete Fotograf Heinz Gebhardt für die Nachwelt, indem er ihn in seiner Fototasche verschwinden ließ – und ihn später dem Oktoberfest-und Biermuseum schenkte, wo er bis heute ausgestellt ist.

OB Kiesl: „Obatzt is!“
Erst nach 28 Jahren: Die erste Maß für den Ministerpräsidenten! Vier Schläge brauchte Erich Kiesl 1978 bei seinem ersten Anzapfen dass es nur so spritzte, „aber da Strauß hat gsagt, wer Staub aufwirbelt darf auch spritzen!“
Strauß war aber gar nicht da, sondern Alfons Goppel in seinem letzten Jahr als Ministerpräsident. Ihm reichte Erich Kiesl an allen anderen Anzapfpromis vorbei die gut gefüllte Mass und merkte dabei nicht, dass er das Wichtigste vergessen hatte: „Ozapft is!“ Dafür bekam 28 Jahre nach dem ersten Anzapfen zum ersten Mal der Bayerische Ministerpräsident die erste Wiesnmaß!

Nachdem Ministerpräsident Franz Josef Strauß 1979 das Anzapfen geschwänzt hatte und erst am Nachmittag bei mehreren Maß Bier gesichtet wurde, war im Jahr seiner Kanzlerkandidatur 1980 das Anzapfen ein Muss-Termin. Und damit die erste Maß für ihn vertraglich abgesichert bleibt, erzählte er ins Mikrofon des Bayerischen Rundfunks von seiner großartigen Idee: „Alle Dienstboten haben einen Vertrag, da ist genau geregelt, was sie kriegen. In meinem Dienstvertrag habe ich vor Amtsantritt darauf bestanden, dass ich die erste Maß krieg, die der OB anzapft.“ Kiesl folgte Strauß aufs Wort, reichte ihm die erste Maß – und so wird das Märchen von der „traditionellen ersten Wiesnmaß“ für immer und ewig bis zum heutigen Tag weitergeführt.
Das Schottenhamel-Zelt brüllte vor Lachen
Im Jahr darauf, 1981, machte es Franz Josef Strauß ein höllisches Vergnügen, den Oberanzapfer bei dieser wichtigen Amtshandlung durcheinander zu bringen. Während Kiesl hinter dem Rücken von FJS für die Fotografen mit dem Schlegel so ausholte, als würde er den großen Vorsitzenden k.o. schlagen, frozzelte Strauß ins Mikrofon: „Wie ich gehört habe, bereitet sich der Erich jetzt im zweiten Bildungsgang als Anzapfer vor!“ „Jaja, is scho recht“, knurrte Kiesl und zapfte mit drei wuchtigen Schlägen an.
Und damit’s nicht wieder heißt, er würde das Wichtigste vergessen, schrie er aus Leibeskräften: „Obatzt is!“ – das Schottenhamel-Zelt brüllte vor Lachen. Zum ersten Mal wurde das Oktoberfest offiziell „obatzt“.
Anzapf-König: Christian Ude
Mit der Anzapf-Ära von Christian Ude wurde die Wiesn-Eröffnung zum medialen Großereignis und schon bei seinem ersten Anzapfen 1993 war das Chinesische Fernsehen live dabei: Über 100 Millionen Chinesen konnten zuschauen, wie Ude zum ersten Mal anzapfte und beim zweiten Ausholen auch gleich wuchtig danebenschlug.
„Dafür saß der dritte Schlag felsenfest. Das Dumme war nur: Keiner hat den Meisterschlag erkannt. Keiner. Ich auch nicht. Ich fürchtete vielmehr, gleich werde der große, alles mitreißende Schwall herausplatzen, wenn ich nicht ganz schnell nachsetzte. Zack, zack, zack, zack. Ich hörte erst auf, als ein Sprechchor „Aufhören!“ schrie. Na gut, wenn das so ist, höre ich halt auf, dachte ich mir und sagte: „Ozapft is!“ Das war’s“, erinnerte sich Ude.

14 Schläge und ein Anzapftraume
Die 14 Schläge hinterließen ein Anzapftrauma und Ude begab sich in die anzapfpsychologische Beratung eines erfahrenen Schenkkellners der Paulanerbrauerei. „Um strengste Diskretion zu wahren, stand im Tagesplan, der an alle städtischen Dienstellen ausgereicht wird, für Donnerstag 16 Uhr nur ‚Termin außer Haus‘. Die Übungen an einem mit Wasser gefüllten Bierfass zeigten beim nächsten Anzapfen 1993 schon einen deutlichen Achtungserfolg: Ude halbierte zwar seine Draufhauwut, trotzdem ertönten erneut „Aufhören!“-Rufe. Am 17. September 2005 zapfte er dann mit noch nie dagewesenen zwei Schlägen an! Seitdem ist Ude mit 21 erfolgreich angezapften Fässern der Anzapf-König des Oktoberfestes.