Zweite Stammstrecke in München: Milliarden-Fiasko bei der zweiten Röhre
München - Die Arbeiter sind gereizt auf der Baustelle für die zweite S-Bahn-Stammstrecke am Marienhof. Als das metallene Rolltor sich am Donnerstagmittag für einen Moment öffnet und der AZ-Fotograf von der Straße aus ein Baustellenbild machen möchte, schießt ein Mann mit Bauarbeiterhelm heraus, baut sich vor dem Fotografen auf und greift ihm in die Kamera.
"Hier wird nicht fotografiert", schreit der Mann, "ich habe hier das Hausrecht!" Den Kollegen vom Fernsehen ergeht es nicht besser.
Die Nerven sind offenbar sogar hinterm Bauzaun dünn, seit am Donnerstagvormittag Bayerns Verkehrsminister Christian Bernreiter (CSU) vor die Presse getreten ist – mit Zahlen, die fast sprachlos machen.
Zweite Stammstrecke in München: Kostenexplosion droht
Nicht mehr 3,8 sondern 7,2 Milliarden Euro soll die zweite S-Bahnröhre kosten, bis sie fertig ist. Die zehn Kilometer lange Entlastungsstrecke durch die Innenstadt wird auch nicht 2028 fertig, die Inbetriebnahme könnte sich bis 2037 hinziehen, so der Minister. So habe es ihm die Projektbegleitung im Ministerium vorgerechnet.
Man wolle diese Zahlen nun mit denen der Deutschen Bahn (DB) abgleichen, allerdings habe die ihre Zahlen bislang nicht offengelegt. Auch die Gründe für die Kostenexplosion seien unklar.
Auf AZ-Nachfrage sagt eine Sprecherin auch nur, man überprüfe aktuell die Zeit- und Kostenpläne des Projekts. "Da diese Überprüfung noch nicht abgeschlossen ist, äußern wir uns zur aktuellen Berichterstattung nicht."
Bayerns Verkehrsminister Bernreiter: "Ich halte fest: Herr Wissing kneift"
Noch angefressener aber ist Bernreiter darüber, dass Bundesverkehrsminister Volker Wissing (FDP) ein für Donnerstag geplantes Krisentreffen hat platzen lassen. Nicht einmal einen Alternativtermin gebe es. "Das ist für mich sehr, sehr schlechter Stil. Ich halte fest: Herr Wissing kneift", schäumte Bernreiter. Bayern bekenne sich "zu seiner Verantwortung", die Kosten zu stemmen, sagt er weiter, die Zweite Stammstrecke sei enorm wichtig. Er fordere nun auch vom Bund ein klares Bekenntnis dazu.

Die Planung für die Entlastungsröhre läuft seit Jahren. Schon im Oktober 2016 hatten Bund, Freistaat, die Stadt München und die Bahn die gemeinsame Finanzierung vereinbart, der Bund, hieß es, werde 60 Prozent der förderfähigen Baukosten übernehmen. Damals lagen allerdings die von der DB errechneten Gesamtkosten von 3,85 Milliarden Euro zugrunde – inklusive Risikopuffer.
Landtags-SPD: "Brauchen die zweite Stammstrecke"
Im Münchner Rathaus war schon in den letzten Tagen die Aufregung groß – dort hatten erste Gerüchte über eine Kostenexplosion die Runde gemacht. Die Aussicht, noch über viele Jahre mehr mit einer massiven Baustellensituation bei der S-Bahn zu tun zu haben und womöglich andere ÖPNV-Projekte durch die Kostenexplosion zu gefährden, ist massiv unerfreulich. "Ich hoffe sehr, dass die Projektträger Bund, Freistaat und Deutsche Bahn alles daran setzen, dass das größte Infrastrukturprojekt Deutschlands kein zweiter Berliner Flughafen (BER) wird", ließ OB Dieter Reiter (SPD) am Donnerstag mitteilen. Auch die Landtags-SPD besteht auf die zweite Röhre. "Wir brauchen die zweite Stammstrecke, und zwar so schnell wie möglich“, sagt Fraktionschef Florian von Brunn.
Die CSU im Rathaus jedenfalls mag die Bahn mit ihrer Zahlenverschweigerei nicht durchkommen lassen – und hat am Donnerstag beantragt, einen Bahn-Vertreter in den nächsten Mobilitätsausschuss am 20. Juli zu laden, damit er Stellung nimmt. "Ich bin entsetzt über die Zahlen, die im Raum stehen“, erklärt CSU-Fraktionschef Manuel Pretzl. "Eine Verdopplung der Kosten und eine Verzögerung um neun Jahre wären eine Katastrophe für unsere Stadt.“ Deshalb müsse der Stadtrat jetzt mit den Experten der DB nach Lösungen suchen.
Wissing: Treffen "aus Termingründen abgesagt"
Auf Bernreiters Attacke reagierte das Bundesverkehrsministerium am Donnerstag erst am Spätnachmittag: Wissing habe das Treffen "aus Termingründen abgesagt", heißt es auf AZ-Nachfrage, dem Ministerium lägen "keine offiziellen Informationen zu Kostensteigerungen und Zeitverzug" vor, zuständig seien ohnehin "Freistaat und Bahn". Konkreteres lässt sich die Stadtrats-FDP einfallen – und fordert einen "sofortigen Baustopp, sollten auf die Stadt Mehrkosten zukommen", die Milliarden seien in anderen S-Bahnprojekten besser investiert.
Die Zweite Stammstrecke, an der seit fünf Jahren gebaut wird, verläuft zwischen den Bahnhöfen Laim und Leuchtenbergring über eine Länge von gut zehn Kilometern. Rund sieben davon liegen in einem Tunnel, der bis zu 48 Meter unter dem Gelände liegt. Die unterirdischen Haltestellen Hauptbahnhof, Marienhof und Ostbahnhof sollen neu gebaut werden.
Bislang müssen alle S-Bahnen auf der aktuellen Stammstrecke, die 1972 zu den Olympischen Spielen eröffnet wurde, in einem Tunnel durch ein Nadelöhr.