Die dreckigen Löwen-Jahre: „Uns fehlte ein Hoeneß“

Wie 1860 es versäumte, sich nach den Erfolgen als Macht zu etablieren. Dafür zog der FC Bayern vorbei. „Harakiri in mühevoller Kleinarbeit“
MÜNCHEN Die Revolution fand nebenan statt. Dezember ’66, gleich beim Sechzger Stadion, ein gutes halbes Jahr zuvor noch Schauplatz der großen Meisterfeier. Nun hatten sich die Spieler im Hotel Wetterstein zum Aufstand versammelt, mit 14:3 votierten die Spieler für den Rauswurf von Erfolgstrainer Max Merkel, und es passte, dass die Abstimmung im Moorbad des Hotels stattfand. Denn damit begannen auch die dreckigen Jahre.
Es war die Zeit, in denen die Löwen die einmalige Chance verspielten, sich als große Fußballmacht zu etablieren. In München, im Land, in Europa. Nach Pokalsieg ’64, Wembley ’65, Meistertitel ’66. Und statt weiteren Trophäen in den Vitrinen sammelten sie nur Schulden an.
Fredi Heiß hat das alles mitbekommen, von 1959 bis 1970 spielte er bei Sechzig, und an die Zeit nach der Meisterschaft denkt er nur mit Grausen zurück. „Es ging nur noch um persönliche Eitelkeiten“, sagt er heute, „zu viele Anti-Fußballer im Vorstand, lauter Selbstdarsteller. Und darum haben uns die Bayern überholt.“ Und zwar deutlich.
Bei der Anzahl der Meisterschaften in der Bundesliga führten die Löwen gegen die Bayern bis 1969 mit 1:0. 41 Jahre später steht es nun 1:21.
Das liegt auch daran, dass sie an der Säbener Straße von Anfang an mit Geld umgehen konnten und an der Grünwalder nicht. „Was uns Löwen immer gefehlt hat“, sagt Heiß, „das waren Manager wie Robert Schwan und Uli Hoeneß.“ Seriöse Wirtschafter.
Schon im ersten Jahr der Bayern in der Bundesliga, der Meistersaison der Löwen, hatten die Roten die Blauen überholt, bei der Zahl der Mitglieder. 8000 zu 7100. Bayern war chic, trendy, hip. Bayern war sexy. Gert Fröbe, Senta Berger, Max Greger, alles Edel-Fans der jungen Wilden um den feschen Obergiesinger Postlersohn Franz Beckenbauer.
Die Bayern bauten sich alles auf, bei Sechzig brach alles ein. Innerhalb eines Jahres verschwanden 800000 Mark, dubios, weg, einfach so. Sechzig, eine Geldverbrennungsmaschinerie. Heute Griechenland, damals Giesing, nur dass es einst keine milliardenschwere Rettungspakete für die Löwen gab.
Dazu die Gagen, allein Max Merkel bekam damals astronomische 11000 Mark im Monat, 2293 Mark mehr als Bundeskanzler Ludwig Erhard.
Mit Merkel war es dann vorbei. Die Methoden des Schleifers ertrugen die Spieler noch im Erfolg, als der nach der Meisterschaft ausblieb, rumorte es. Genug der Einkasernierung vor den Spieltagen, jede Woche ab Donnerstag. Die Unbarmherzigkeit auch gegenüber Mittelfeldspieler Hans Küppers, der an einem Mittwoch heiratete und vergeblich um einen freien Donnerstag bat, stattdessen pünktlich im Trainingslager am Ammersee aufschlagen musste: „Selber schuld“, schnaubte Merkel, „ein Fußballspieler hat sonntags zu heiraten, aber nicht mittwochs.“
Nach Merkels Sturz ging es zwar humaner zu, es fehlte aber die Linie. Sechs Trainer bissen sich die Zähne an den Löwen aus. Weber, Baumann, Sing, Pilz, Langner, Binder.
Dazu kam die kolossale Misswirtschaft von Klub-Präsident Adalbert Wetzel. Beim Abstieg 1970 hatten die Löwen mit zwei Millionen Mark 400 Mal mehr Schulden als Zuschauer: Zur letzten Bundesliga-Partie, einem trostlosen 0:0 gegen Essen, der Abschiedspartie von Petar Radenkovic, verloren sich gerade noch 5000 Menschen im Stadion auf dem Candidberg.
In ihrem Nachruf nannte die Abendzeitung den Verein einen „Saftladen“ und schrieb über die zu große Macht der Nebenabteilungen: „Turner, Leichtathleten und sonstige Akrobaten in Funktionärspositionen haben auf dem Gewissen, dass 1860 in Sachen Fußball Schiffbruch erlitt. Man darf ohne Übertreibung behaupten, dass dieser Verein in mühevoller Kleinarbeit Harakiri betrieben hat.“
Harakiri, die rituelle Art der Selbsttötung in Japan, bei der sich die Menschen den Bauch aufschneiden. Doch anstatt die Wunde zu versorgen, drehten sie das Messer nur weiter herum und vergrößerten das Leid des blutenden Löwen.
Wetzels Nachfolger war Franz Sackmann, der sich als Staatssekretär im bayerischen Wirtschaftsministerium mit Geld so gut auskannte, dass die Schulden gleich auf vier Millionen Mark anwuchsen. Es folgte sein schwarzer Partei-Spezl Erich Riedl, der die Löwen so umsichtig führte wie Schiffskapitän Edward John Smith 1912 seine Titanic.
Nach Jahren der Zweitklassigkeit und einem kurzen Bundesliga-Intermezzo standen die Schulden bei acht Millionen. Es folgte der Zwangsabstieg in die Bayernliga, und als Riedl mal wieder im Bundestag als CSU-Finanzexperte vorsprach, da skandierte Herbert Wehner höhnisch: „Sechzig, Sechzig“. So gelacht hatten sie auf den Parlamentsbänken der SPD selten. Keiner nahm die Löwen mehr ernst, weder die Roten in Bonn noch die in der Säbener Straße.
Sechzig war kein Konkurrent mehr für Bayern. Sechzig war ein Trauerspiel. Statt wie einst gegen Turin, West Ham, Madrid, spielten sie nun gegen Vilshofen, Ampfing, Fürstenfeldbruck.
Sie steckten immer noch fest im Sumpf. 20 Jahre nach dem Moorbad. Florian Kinast