Neue deutsche Welle
Diese DFB-Truppe tritt anders auf als andere deutsche Mannschaften vor ihr – mit Spielfreude und Spielkultur, ganz ohne Kraftmeierei.
CENTURION Erstmal ausschlafen. Den ersten Termin hatte Bundestrainer Joachim Löw am Montag erst für 13.30 Uhr angesetzt im Mannschaftshotel „Velmore Grande“. Als der DFB-Tross nach dem 4:0 zum WM-Auftakt gegen Australien spät nachts in Centurion zurückgekehrt war, hatten einige noch in der Lobby zusammengesessen und etwas gegessen. Doch im Grunde mussten sie zunächst das verdauen, was sie selbst geleistet hatten.
Es war der spektakulärste, überzeugendste Auftritt einer Nation bei dieser WM bisher in Südafrika. Spielwitz, Spielfreude, Spielkultur – und vier Treffer. Kein anderes Team war über zwei Tore hinausgekommen, keines hatte den Gegner so dominiert. Diese Elf hat Eindruck hinterlassen.
Nicht nur bei den Fans in Durban, auch bei knapp 28 Millionen TV-Zuschauern (Marktanteil: 74,4 Prozent). Damit war es das meist gesehene Vorrundenspiel bei einem großen Turnier seit der EM 1992, vor vier Jahren in Deutschland hatte nur das verlorene Halbfinale gegen Italien mehr Zuschauer.
Dabei hatte man geglaubt, die Euphorie um das Sommermärchen 2006 ließe sich nicht steigern. Geht doch! Dabei steht diese Elf erst am Anfang. Obwohl Kapitän Philipp Lahm jetzt schon behauptet, sie sei spielerisch besser als 2006, als man Dritter wurde.
„Wir haben eine tolle junge Mannschaft mit vielen Talenten, und über unsere Nachwuchsteams wachsen weitere heran", lobt DFB-Präsident Theo Zwanziger. Richtig erkannt: Diese deutsche Mannschaft spielt anders als noch bei früheren Turnieren. Unansehnlich war der Fußball der Kraftmeier von 1982 und ’86, die den Gegner durch ein stabiles Bollwerk und preußische Disziplin verzweifeln ließen. Die Truppe von 2002 bestand aus Oliver Kahn, Michael Ballack und einer Mischung aus Glück und Teamgeist. 2006 trug die Euphorie eine Elf, die über ihre Verhältnisse spielte und von der Spontan-Emotion Jürgen Klinsmanns lebte. Doch 2010 ist alles anders.
Hier spielt die neue deutsche Welle. „Wir wollen das Spiel nicht verwalten, wir wollen immer angreifen und agieren“, sagt Bundestrainer Jogi Löw, „das ist für mich der Sinn des Spiels, das macht den Leuten Spaß.“ Und sie selbst haben Spaß. Allen voran Mesut Özil, der brillante Spielmacher. Dazu Thomas Müller und Lukas Podolski über die Außen, in der Hinterhand Marin und Kroos, allesamt feinste Techniker. „Die Jungen folgen Jogi blind, das ist die neugierigste Nationalmannschaft, die ich je gesehen habe“, sagt Teammanager Oliver Bierhoff.
Überlegt, aber auch draufgängerisch, so lässt Löw mit fünf Bayern in der Startelf spielen. Löw geht seinen eigenen Weg, von einer Kopie des Stils von Louis van Gaal kann keine Rede sein. Löw: „Man kann Vergleiche ziehen: Die gemeinsame Basis ist die Raumaufteilung in Defensive und Offensive. Aber wir haben eine etwas andere Spielweise, wir haben keine Flügelspieler wie Robben und Ribéry." Dafür in Özil einen Spielmacher.
Löw: „Ich möchte Kombinationsfußball sehen, Spielkultur.“ Den Löw-Stil. Zwanziger: „Ich danke Jogi Löw, weil ich spüre, dass er eine junge Mannschaft geprägt und nach seinen Vorstellungen gestaltet hat." Endet das Unternehmen mit der WM? Zwanziger würde mit Löw gern verlängern, der lässt es offen. Er hat alle Trümpfe in der Hand.
Patrick Strasser