"Alte Festplatte gelöscht": Nagelsmann-Evolution entfacht DFB-Euphorie
Dortmund - Noch tief in der Nacht zuckten am Himmel über Dortmund Blitze, es krachte, es schüttete. Die Straßen rund um das Stadion gerieten zu Großraumpfützen, zahlreiche Fans zu begossenen Pudeln. Ein unwirtlicher, unbehaglicher Sommerabend, der von einem selten dagewesenen Unwetter bestimmt wurde. Und ein zwischenzeitlich unterbrochenes, unwirkliches Spiel, in dem die deutsche Nationalelf mit Ach und Krach, mit Glück und Geschick Dänemark besiegte. Dank der Treffer von Kai Havertz und Jamal Musiala – Donnerwetter!
Nagelsmann über Sieg gegen die Dänen: "Ein skurriles Spiel voller Widerstände"
Mit dem hart erarbeiteten und emotional erkämpften 2:0-Erfolg gegen Dänemark zog das DFB-Team ins EM-Viertelfinale ein. Die Fans sangen bereits "Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!". Der Traum vom Endspiel im Olympiastadion am 14. Juli lebt. Als nächstes trifft das DFB-Team am Freitag in Stuttgart auf den Sieger der Partie Spanien gegen Georgien.
"Das war ein skurriles Spiel voller Widerstände, gegen die wir sehr gut angekämpft haben", freute sich Bundestrainer Julian Nagelsmann, "wir sind verdient weitergekommen, auch wenn es nicht glasklar war." Was er meinte: Zwei ganz knifflige Szenen kurz nach der Pause, bei beiden das DFB-Team großes Glück hatte, VAR-dammt viel Glück.

DFB-Team gehört wieder zu den Titel-Kandidaten
Komplett geschafft war auch Julian Nagelsmann nach diesem aufreibenden K.o.-Spiel an der Seitenlinie. Mit Herz und Hirn sowie den richtigen Personalentscheidungen hatte der 36-Jährige seine Mannschaft zum Erfolg gecoacht. Während der TV-Interviews an der Seitenlinie wurde er von den Fans mit Sprechchören gefeiert. Zurecht. Denn Nagelsmann ist der entscheidende Faktor dafür, dass dieses DFB-Team da ist, wo es jetzt ist. Wieder angekommen im Kreis der Großen, bei den Titel-Kandidaten. Eine Mannschaft, die sich alles zutraut, der man alles zutraut.
Ein Team, das seit den Erweckungstagen im März mit den beiden überzeugenden Test-Länderspielen in Frankreich (2:0) und gegen die Niederlande (2:1) eine Kerze der Hoffnung anzündete. Diese Flamme lodert mittlerweile kräftig und sorgt an den Abenden der EM-Spiele für die Renaissance der guten, alten Lagerfeuer-Momente einer mitfiebernden Nation.
Nagelsmann legte Grundstein für Teamhierarchie im März
Eine Zeit lang motzten und schimpften die deutschen Fans über ihr einst liebstes Kind, mussten traumatische WM-Turniere mit dem zweimaligen Vorrunden-Aus (2018 in Russland und 2022 in Katar) verdauen bis ihnen das DFB-Team beinahe schon egal war. Was noch schlimmer ist. Die immer weiter sinkenden TV-Quoten bestätigten dies.
Und dann kommt dieser Julian Nagelsmann als Nachfolger von Hansi Flick und entstaubt das Flagschiff des DFB mit seinem Elan und seiner Energie. Mit Leidenschaft und der Courage, klare und für die Betroffenen (Mats Hummels, Leon Goretzka, Julian Brandt) unangenehme Entscheidungen zu treffen. In einzelnen, persönlichen Rollengesprächen legte er bereits im März den Grundstein für die neue Teamhierarchie.
DFB: Nagelsmann stolz, dass "Spieler langsam die alte Festplatte gelöscht kriegen"
Jeder kannte seine Aufgabe – Demut oder Urlaub. Dazu die Schlüsselpersonalie mit der Rückkehr von Spielmacher Toni Kroos, den Nagelsmann und sein Trainerteam vom Comeback überzeugten. Und doch war Goldfinger Nagelsmann am Samstag nicht ganz zufrieden mit seiner Mannschaft. "Wir haben immer noch Phasen im Spiel, wenn es nicht so funktioniert und nicht so gut läuft, dann rattert es in den Köpfen", bemängelte er und sagte: "Das ist gar nicht nötig."
Er will daran arbeiten, dass seine Spieler "ruhiger" werden. Kommt Zeit, kommt Tat. Die neue Selbstverständlichkeit, das frisch erlangte Selbstbewusstsein sickert langsam ein. "Es macht mich stolz, wenn die Spieler langsam die alte Festplatte gelöscht kriegen und verstehen, wie gut sie sind." Und noch werden? War die Dänemark-Partie das Knackpunkt-Spiel dieser EM für Deutschland? Das Viertelfinale wird es zeigen.

Nagelsmann wurde 2016 mit 28 Jahren jüngster Bundesligatrainer
Sicher ist: Der Einzug unter die letzten Acht ist rein faktisch der größte Erfolg seit dem EM-Halbfinale 2016 für die Nationalelf, die landesweit wiedergewonnene Lust am DFB-Team Nagelsmanns größtes Verdienst. Der übrigens betrat übrigens im Februar 2016 die Bundesligabühne, wurde mit erst 28 Jahren Trainer der TSG Hoffenheim, als jüngster Coach der Liga. Erst etwas mehr als acht Jahre ist das her. Verrückt.