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"Nach sechs Wochen wussten alle Spieler, dass es nicht gehen würde": Die Wahrheit über Klinsmanns Scheitern beim FC Bayern

Teil XI der AZ-Serie zu den Krisenjahren des FC Bayern: 2008 scheitert Sommermärchen-Trainer Jürgen Klinsmann in München auf ganzer Linie. Für ihn übernimmt dann der egozentrische, aber geniale Louis van Gaal.
von  Patrick Strasser
Schluss, aus, vorbei: Ein 0:1 gegen Schalke ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt –Jürgen Klinsmann muss beim FC Bayern gehen!
Schluss, aus, vorbei: Ein 0:1 gegen Schalke ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt –Jürgen Klinsmann muss beim FC Bayern gehen! © IMAGO / WEREK

München - Zum zweiten Mal verließ Ottmar Hitzfeld, nach der Entlassung von Felix Magath Ende Januar 2007 für knapp eineinhalb Jahre eingesprungen, die Bayern – diesmal nicht erleichtert, sondern unter Tränen der Rührung vor so viel Liebe der Fans.

Nach 14 Jahren in München ist die Ära von Torwart-Titan Oliver Kahn Geschichte. Im Zuge des personellen Wandels kommen die Bayern-Verantwortlichen auf zwei spektakuläre, zugleich verrücke Ideen: Der noch relativ unerfahrene Michael Rensing ist als Kronprinz von Vizeweltmeister und Welttorhüter Kahn auserkoren – ein Trugschluss.

Als erstes ließ Klinsmann die Gebäude an der Säbener Straße umbauen

Noch gravierender: Jürgen Klinsmann, der Architekt des Sommermärchens 2006, als das DFB-Team bei der Heim-WM die Massen begeisterte und Platz erreichte, soll nun den Laden an der Säbener Straße auseinandernehmen. Nach Fitness-Fanatiker Magath und Retro-Coach Hitzfeld nun also Klinsmann, der sich – bevor er die Mannschaft umkrempelt – tatsächlich erst einmal die Gebäude des althergebrachten Kabinentrakts vornimmt.

Vorgeschichte/Ausgangslage: Es entsteht ein modernes Leistungszentrum mit neuen Fitnessräumen, Tischtennisplatten und Rattan-Gartenmöbeln unter Sonnensegeln. Auf dem Dach lässt Klinsmann als Deko-Element vier Buddha-Statuen aufstellen, sie sollten schneller wieder verschwinden als der Motivator selbst. Körper und Geist darf es an nichts fehlen: Yoga, Sprach- und Kochkurse, Rückzugsecken in einer Bibliothek.

Der Anfang vom Ende: Klinsmann gestaltet die Säbener Straße um, stellt unter anderem die berühmten Buddhas auf – sie sind schneller weg als er.
Der Anfang vom Ende: Klinsmann gestaltet die Säbener Straße um, stellt unter anderem die berühmten Buddhas auf – sie sind schneller weg als er. © imago

Klinsmann wollte beim FC Bayern "jeden Spieler jeden Tag ein bisschen besser machen"

"Wir werden den Spielern ein Energiefeld aufbauen, dass ihnen viel Spaß machen wird", verkündet Projektleiter Klinsmann, der sich als Taktik-Experten (zu seiner Bundestrainer-Zeit war dies Joachim Löw) den US-Boy Martín Vásquez holt. Die Coaching-Sprache: Englisch. Klinsmanns Credo: "Wir wollen jeden Spieler jeden Tag ein bisschen besser machen." Ein Mantra, das zum Bumerang wird. Weil nach der exorbitanten Shopping-Tour des Sommers 2007 genug Qualität im Kader ist, werden genau null Euro investiert.

Mittelfeldspieler Tim Borowski kommt ablösefrei aus Bremen, Torhüter Hans-Jörg Butt (eingeplant als Backup für Rensing) zum Nulltarif von Benfica Lissabon. Bemerkenswerter ist die Berufung von Christian Nerlinger zum Manager-Lehrling. Der Ex-Profi soll eines Tages in die gewaltigen Fußstapfen von Uli Hoeneß treten und lernt in einer teils chaotischen Saison schnell den Ernstfall.

Philipp Lahm: "Nach sechs Wochen wussten alle Spieler, dass es nicht gehen würde"

Saisonverlauf/Titel-Ausbeute: Nach einem Okay-Start mit zwei Siegen und zwei Remis geht man ausgerechnet zum Oktoberfest-Auftakt zu Hause mit 2:5 gegen Bremen unter, nach 67 Minuten steht es 0:5. Nie hat Bayern bis dahin höher verloren in der heimischen Allianz Arena. Die Abendzeitung titelt: "Klinsmann: Azubi oder Visionär?" Philipp Lahm schreibt später in seinen Memoiren: "Nach sechs Wochen wussten alle Spieler, dass es nicht gehen würde."

Bis zur Winterpause fängt man sich etwas. In einem Tempofußball-Match auf höchstem Niveau bezwingt Bayern kurz vor Weihnachten den sensationell aufspielenden Emporkömmling TSG Hoffenheim mit 2:1 und geht nach der Hinrunde als Zweiter in die Winterpause, punktgleich mit den Kraichgauern. In den Cup-Wettbewerben überwintert Bayern. Glanzlos, aber immerhin. Ab dem Rückrundenstart verliert die Klinsmann-Elf drei von vier Ligaspielen, scheitert im Pokal-Viertelfinale mit 2:4 in Leverkusen.

Als der FC Bayern in Barcelona unterging, kamen Udo Lattek die Tränen

Im Team rumort es, die Anführer Mark van Bommel und Miroslav Klose setzen in der Not ihre eigenen taktischen Ideen durch. Nach einem peinlichen 1:5 in Wolfsburg kollabiert Bayern vier Tage später mit 0:4 im Viertelfinalhinspiel der Königsklasse beim FC Barcelona. "Unser Freund Udo Lattek hat auf der Tribüne geweint", klagt Rummenigge. Klinsmann ist angezählt und wird nach einem 0:1 gegen Schalke am 27. April entlassen, da die Qualifikation für die Champions League in Gefahr ist.

Für die restlichen fünf Spiele übernimmt Ex-Trainer Jupp Heynckes, als Gast der Hoeneß-Familie gegen Schalke im Stadion. Heynckes beruhigt die Lage und erreicht mit 13 von 15 möglichen Punkten noch Platz zwei hinter Sensationsmeister VfL Wolfsburg mit – doppelte Demütigung für Hoeneß – Felix Magath als Chefcoach.

Auf Jürgen Klinsmann folgte Louis van Gaal – der machte den FC Bayern wieder fit

Lehren/Konsequenzen: Keeper-Kronprinz Rensing konnte dem Druck nicht standhalten, wurde vom erfahrenen Butt als Nummer eins abgelöst.

Nach Interimscoach Jupp Heynckes übernimmt Tulpen-General Louis van Gaal und verpasst dem FC Bayern ein modernes Spielsystem.
Nach Interimscoach Jupp Heynckes übernimmt Tulpen-General Louis van Gaal und verpasst dem FC Bayern ein modernes Spielsystem. © imago

Einen rein taktisch eher planlosen Reformer wie Klinsmann holen sich die Bayern-Bosse nicht mehr ins Haus, dafür einen echten System-Veränderer, die die Architektur auf dem Platz und nicht der Gebäude vornimmt: Der egozentrische, aber geniale Holländer Louis van Gaal führt Bayern mit seinen Entdeckungen Thomas Müller und Holger Badstuber in eine spielerisch bessere Zukunft.

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