Aufstehen!

Er schoss erst einen Riesenbock, dann das Siegtor im EM-Halbfinale gegen die Türkei. Philipp Lahm ist keiner, den Fehler auf Dauer umhauen. Der Münchner ist Weltklasse, sozial engagiert und ein Leader - ein Porträt.
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Philipp Lahm jubelt über sein Siegtor zum 3:2 gegen die Türkei
dpa 2 Philipp Lahm jubelt über sein Siegtor zum 3:2 gegen die Türkei
Philipp Lahms Freundin Claudia auf der Tribüne
dpa 2 Philipp Lahms Freundin Claudia auf der Tribüne

Er schoss erst einen Riesenbock, dann das Siegtor im EM-Halbfinale gegen die Türkei. Philipp Lahm ist keiner, den Fehler auf Dauer umhauen. Der Münchner ist Weltklasse, sozial engagiert und ein Leader - ein Porträt.

Liegt's am Yoga, das Bundestrainer Jogi Löw seinen Stars verordnet? Liegt’s an der Schulung durch Hans- Dieter Hermann, den Sportpsychologen des DFB? Mag alles sein. Doch vielleicht liegt es einfach in der Natur von Philipp Lahm. Denn der Bursche aus Gern hatte etwas gutzumachen kurz vor Schluss im EM-Halbfinale. „Er wollte halt einfach nicht in die Verlängerung“, sagt seine Mutter Daniela Lahm lachend zur AZ, nicht ohne anzufügen: „So ist er, der Philipp. Jeder weiß, dass in einem Spiel Fehler passieren können, aber er wollte diesen einen eben gutmachen.“

Aufstehen, das kann er. Diesen einen Fehler? Das war, als er den Bruchteil einer Sekunde zu spät grätschte und sein Gegenspieler Sabri die Vorlage zu Semihs 2:2 gab. Das war in Minute 86. Nur vier Minuten danach vollendete der Bayern-Star zum 3:2, schoss Deutschland ins EM-Finale am Sonntag – und versetzte die Republik in einen kollektiven Fußballrausch. Wie 2006, als mit seinem Treffer zum 1:0 im ersten Gruppenspiel gegen Costa Rica das Sommermärchen begann.

Er wirkt noch immer wie ein Lausbub

„Der Junge ist unglaublich“, sagte Bayern-Kollege Miroslav Klose, „der macht am Schluss den Sololauf und dann die Kiste“. Eswar ein Ausbruch von Leidenschaft und Siegeswillen, wie man ihn dem 1,70 Meter großen Sympathicus so gar nicht zutraut. Auch mit seinen 24 Jahren wirkt er mit seiner Mecki-Frisur noch immer wie ein unbedarfter Lausbub. Keiner würde sich wundern, blitzte beim Lächeln eine Zahnspange hervor. Und Lächeln, das beherrscht Lahm ebenso gut wie Kämpfen.

Lahm ist Botschafter für SOS-Kinderdörfer. Lahm unterstützt das von Ex-Bundespräsident Roman Herzog initiierte „Bündnis für Kinder“. Lahm wird auch dieses Jahr wieder beim Welt-Aids-Tag am 1. Dezember mit roter Schleife am Hemd auftreten. Lahm hat als erster deutscher Fußball-Profi das Cover des schwulen Lifestyle- Magazins „Front“ geziert. Lahm ist an einem Galopper beteiligt, der vierjährigen Stute „Surabaya“. Mädchen finden das ebenso süß wie die Tatsache, dass Lahm zugibt, Kaninchen zu halten: lange Jahre zwei, jetzt nur noch eines. „Milky Way, das Weiße“, so Lahm, „ist an einem Tumor gestorben.“ Und schließlich hat der Bayern-Profi im Dezember 2007 eine wohltätige Stiftung gegründet.

Uncool aus Leidenschaft

Aufstehen – wenn nicht auf dem Platz, dann gegen Armut, Aids und Diskriminierung, das kann er. Lahm sagt: „Ich ziehe als Nationalspieler das Interesse auf mich. Ich nutze diese Chance, um auf soziale Notwendigkeiten hinzuweisen.“ Was großartig ist. Cool im Beckham’schen Sinne ist es natürlich nicht. Überlebensgroße Bilder von Englands extravagantem Nebenberufs- Mittelfeldstar in Unterwäsche hängen in Hollywood. Überlebensgroße Bilder von Deutschlands nettem Weltklasse-Kicker hängen an jeder Autobahn – samt dem ironischen Spruch: „Raser sind so cool“. Lahm ist uncool. Aus Leidenschaft.

Ihm geht es um echte Emotionen, um sportliche Erfolge. „Lahm ist Weltklasse“, sagt Bayern-Präsident Franz Beckenbauer. „Lahm ist intelligent“, sagt Manager Uli Hoeneß. Und natürlich ist Lahm reich. Samt Werbegeldern – er wirbt für eine Bank und Spielkonsolen – kassiert er rund sieben Millionen Euro per annum. Lahm ist auch clever. Seiner Vertragsverlängerung beim FC Bayern bis 2012 ging im Frühjahr ein bizarrer Poker voraus. Aus Spanien wurde kolportiert, Lahm habe mit dem zahlungswilligen FC Barcelona bereits ein Vorabkommen über einen Wechsel 2009 geschlossen.

Er staucht Ribéry zusammen

Freunde aus seinem direkten Umfeld konstatieren beim Außenverteidiger zugleich „ein hohes Verantwortungsbewusstsein und einen ausgeprägten Machtanspruch“. Beim FC Bayern hat er schon des öfteren Wunderdribbler Franck Ribéry zusammengestaucht, wenn der Franzose glaubte, nichts für die Defensive tun zu müssen.

Am Mittwochabend in Basel hielt er in der Halbzeit die Kabinenansprache. Kein Wunder, dass er sich später in der Pflicht sah. „Das war mit Sicherheit mein wichtigstes Tor“, sagte Lahm danach.

Aufstehen, das kann er. EM-Held, Werbe-Millionär, Kämpfer für sozial Benachteiligte – Philipp Lahm ist das gute und gut bezahlte Gewissen des deutschen Profi-Fußballs. So erhielt er nicht nur am Mittwochabend von der Uefa die Auszeichnung „Man of the Match“, sondern vor ein paar Tagen wurde ihm auch der „Tolerantia-Preis“ der Initiativgruppe „Schwules Weimarer Dreieck“ zuteil. So kommt’s, wenn man gut ist. Im Aufstehen.

Jochen Schlosser

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