Interview

"Wir erleben eine Verunsicherung in Deutschland": Grünen-Chef über Flüchtlinge vor der Haustür

Der Grünen-Vorsitzende Omid Nouripour spricht im AZ-Interview über Solidarität mit Israel, die Integration von Geflüchteten und die Landtagswahlen in Bayern und Hessen.
Bernhard Junginger |
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"Warum sollen Geflüchtete nicht ihren Lebensunterhalt selbst verdienen?", fragt Nouripour im Interview mit der AZ.
"Warum sollen Geflüchtete nicht ihren Lebensunterhalt selbst verdienen?", fragt Nouripour im Interview mit der AZ. © Stefan Puchner/dpa

Ein Dämpfer waren sie schon, die Wahlergebnisse für die Grünen in Bayern und Hessen. Das sieht auch Parteichef Omid Nouripour so, der sich nach dem hitzigen Wahlkampf nun wieder auf "gute Politik" und die Erfolge der Ampel-Koalition im Bund konzentrieren will.

Im AZ-Interview erklärt der 48-Jährige außerdem, wie die Grünen das Thema Migration anpacken wollen und welche Position er selbst beim Konflikt zwischen Israel und der Hamas einnimmt. 

AZ: Herr Nouripour, was ist die wichtigste Konsequenz, die Ihre Partei aus dem schlechten Abschneiden bei den Landtagswahlen vor einer Woche in Bayern und Hessen ziehen muss?
Omid Nouripour: Wir haben uns in beiden Ländern bessere Ergebnisse erhofft, keine Frage. Dennoch sind es in beiden Fällen die historisch zweitbesten Ergebnisse. Mit Blick auf das Wahlergebnis aller Ampelparteien im Bund muss man sagen: Das war kein guter Wahltag. Wir erleben eine gewisse Verunsicherung in Deutschland, angetrieben durch die aktuelle wirtschaftliche Lage, die Inflation, den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Die Stimmung im Wahlkampf war, insbesondere in Bayern, sehr aufgeheizt. Es geht jetzt darum, Sicherheit zu geben und uns auf das zu fokussieren, worum es geht: gute Politik im Sinne des ganzen Landes. Die Ampel hat in den letzten zwei Jahren vieles hinbekommen. Wir müssen besser darin werden, die Erfolge auch nach außen zu tragen und nicht im schrillen Streit zu zerreden.

Omid Nouripour (Grüne): "Wir müssen Migration besser organisieren und steuern"

Viele Menschen sind, das zeigt auch das starke Abschneiden der AfD, besorgt über die steigenden Flüchtlingszahlen. Ihre Koalitionspartner SPD und FDP fordern eine stärkere Begrenzung der Migration. Einfacheren Abschiebungen, aber auch einer vereinfachten Arbeitsaufnahme für Flüchtlinge haben Sie bereits zugestimmt. Genügt das?
Die meisten Menschen sorgen sich ja, weil unsere Kommunen an eine Belastungsgrenze kommen. Das verstehe ich, auch ich höre von zunehmend vielen, die am Limit sind. Da gibt es aber nicht die eine Antwort, die alle Probleme löst. Ja, es braucht beispielsweise Rückführungsabkommen, und es braucht eben auch ganz dringend Unterstützung für die Kommunen, die in den letzten Jahren einen unglaublichen Job gemacht haben. Das heißt beispielsweise auch je nach Lage konstant eine gute finanzielle Unterstützung vor Ort. Und es heißt auch, dass wir Migration besser organisieren und steuern müssen, und zwar auch auf europäischer Ebene. Um das alles kümmert sich die Ampel.

Wie geht die Forderung aus den Ländern nach Arbeitspflichten für Geflüchtete mit den beschlossenen einfacheren Arbeitsmöglichkeiten zusammen? Ist das dasselbe?
Der Arbeitsmarkt als Integrationsmotor muss Vorrang haben. Momentan ist es doch so, dass es für die meisten ankommenden Menschen ewig und drei Tage dauert, bis sie endlich hier arbeiten können. Das macht wenig Sinn: Denn warum sollen Geflüchtete nicht ihren Lebensunterhalt selbst verdienen? Das entlastet doch die Kommunen, die Kassen und hilft auch den Unternehmen, die händeringend Arbeitskräfte suchen. Außerdem wissen wir, dass Menschen, die hier arbeiten, sich viel schneller integrieren und die Sprache lernen. Ich glaube, die Stoßrichtung von Bund und Ländern ist da eine ganz ähnliche.

"Die meisten Kommunen stellen nicht auf Sachleistungen um, weil der Aufwand zu groß ist"

Die Länder fordern auch, dass Asylbewerber künftig kein Bargeld mehr bekommen, sondern nur noch Sachleistungen. Die Grünen sind bislang dagegen. Aber muss nicht auch Ihre Partei Kompromisse machen, damit der Flüchtlingszuzug begrenzt werden kann?
Natürlich sind wir auch bereit, Kompromisse zu machen, aber sie müssen den Kommunen auch helfen. Die Kommunen können jetzt schon sofort auf Sachleistungen umstellen. Die meisten machen es aber nicht, weil der Aufwand zu groß ist. Schon jetzt fehlt dort das Personal an allen Ecken und Enden. Woher sollen die Menschen kommen, die die nötigsten Dinge einkaufen, lagern und verteilen? Alle Vorschläge sind willkommen, wenn sie rechtskonform und machbar sind. Und wenn sie die Kommunen voranbringen.

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Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine hingen in unzähligen Fenstern ukrainische Flaggen als Zeichen der Solidarität. Nach dem brutalen Hamas-Terror gegen Israel blieben solche Gesten selten. Wie sollte Deutschland jetzt seine Solidarität mit Israel zeigen?
Unser Platz ist an der Seite Israels. Der brutale Terror der Hamas gegen Zivilistinnen und Zivilisten ist mit nichts zu rechtfertigen. Stimmen, auch hierzulande, die genau das versuchen, verhöhnen die zivilen Opfer in Israel und Gaza. Der Terror gegen den Staat Israel und seine Bevölkerung muss sofort gestoppt werden! Ich möchte auch klar sagen: Israel hat das völkerrechtlich verbriefte Recht und die Pflicht, seine Bürgerinnen und Bürger gegen diese brutalen Angriffe und diesen Terror zu verteidigen. Diese Solidarität heißt auch, Israel mit aller Kraft beizustehen und Israelis und Jüdinnen und Juden in Deutschland zu schützen. Das bedeutet, den Schutz jüdischer und israelischer Einrichtungen hochzufahren und ausreichenden Schutz durch die Polizei sicherzustellen. Vereine und Gruppierungen, die Hass gegen Jüdinnen und Juden schüren und zur Gewalt aufrufen, müssen stärker von den Sicherheitsbehörden in den Blick genommen werden. Deshalb war es richtig, dass der Kanzler ein Betätigungsverbot der Hamas in Deutschland sowie ein Verbot des palästinensischen Netzwerks Samidoun angekündigt hat.


Zur Person: Omid Nouripour Der 48-Jährige ist seit Februar 2022 gemeinsam mit Ricarda Lang Bundesvorsitzender der Grünen.

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  • Himbeergselchts am 18.10.2023 09:53 Uhr / Bewertung:

    Danke für diesen Beitrag AZ. Die Kinder- und Jugendhilfe, Kinderschutz stehen direkt vor dem Kollaps, berichtet heute die „Zeit“. Ein Aspekt, der mir berufsbedingt (Jugendamt) ins Auge „springt“. Wir haben absolut keine Heimplätze mehr, obwohl in unserem kleinen Landkreis 2015 allein für zugewanderte Jugendliche drei Heime saniert, eröffnet und konzipiert wurden. Was tun? Nicht nur unser Amt steht seit Jahren vor dem Abgrund, Kinder die Schutz benötigen nicht mehr schützen zu können. Die Landsleute, die schon lange hier leben, wollen die umFs auch nicht aufnehmen. Meine Schwester berichtet aus einem anderen Jugendamt Identisches. Und wir sind nicht Berlin oder Hamburg.

  • FFF-Nein Danke am 17.10.2023 22:15 Uhr / Bewertung:

    Omid Nouripour: Fragen Sie doch bitte mal Ägypten, Australien, USA oder die VAE, warum die keine Flüchtlinge aufnehmen?

  • Der wahre tscharlie am 18.10.2023 17:46 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von FFF-Nein Danke

    Ein paar Zahlen für dich von der UNO-Flüchtlingshilfe.

    "Die fünf größten Aufnahmeländer von Flüchtlingen:
    Türkei - 3,6 Millionen
    Islamische Republik Iran - 3,4 Millionen
    Kolumbien - 2,5 Millionen
    Deutschland - 2,1 Millionen
    Pakistan - 1,7 Millionen

    Die fünf größten Herkunftsländer von Flüchtlingen:
    Syrien - 6,5 Millionen
    Ukraine - 5,7 Millionen
    Afghanistan - 5,7 Millionen
    Venezuela - 5,5 Millionen
    Südsudan - 2,3 Millionen
    Zitatende.

    Zur USA folgendes Zitat:
    "Im Jahr 2021 wurden rund 11.454 Flüchtlinge und Asylanten in die USA aufgenommen. Diese Statistik gibt Auskunft über die jährliche Anzahl der angekommenen Flüchtlinge und Asylanten in den USA für die Jahre 2011 bis 2021.
    Die US-Behörden unterscheiden zwischen Flüchtlingen und Asylanten."

    Dass man die illegalen Grenzübertritte nicht erfassen kann, versteht sich von selbst.

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