Regierungsbildung: "Grüne oder FDP - einer muss die Kröte schlucken"
AZ-Interview mit Stefan Wurster: Der 41-jährige Professor für Politologie forscht an der Hochschule für Politik München (HfP) der Technischen Universität München.
AZ: Herr Professor Wurster, es ist zugegebenermaßen extrem schwer zu prognostizieren, wie die nächste Regierung aussieht, aber verraten Sie doch bitte Ihren Tipp!
STEFAN WURSTER: Zwar ist die Große Koalition in der Bevölkerung relativ unbeliebt, aber schaut man auf die Zahlen, muss man eines feststellen: Die SPD und die Union hätten eine solide Mehrheit, auch wenn es innerhalb der Koalition erhebliche Verschiebungen gibt. Das hatte eine personelle Komponente, der berühmte fehlende Merkel-Faktor, der hier eine große Rolle spielt. Aber was auch offensichtlich ist: Die Wähler sind nicht woandershin gewandert, denn die Ränder wurden definitiv nicht gestärkt, weder rechts noch links.
Ist das ein Zeichen einer gewissen politischen Stabilität in Deutschland?
Ja, unbedingt, das kann man sagen. Die Wähler sind zwar bereit, zu wechseln, aber sie sind nicht beliebig bereit, zu wechseln - und sie bleiben in der politischen Mitte.

Einen strahlenden Sieger hat die Wahl allerdings nicht hervorgebracht, oder?
Nein, natürlich nicht. Obwohl die Parteien das jetzt wie üblich so verkaufen. Spannend wird die Frage sein, wie sich die Grünen und die FDP entscheiden. Ich glaube, dass es für die FDP sehr schwer wäre, in eine Ampel-Koalition mit SPD und Grünen zu gehen. Für die Grünen wäre Jamaika mit Union und FDP vielleicht ein bisschen einfacher. Aber das muss man abwarten. Einer muss, bildlich gesprochen, die Kröte schlucken - oder wir bekommen doch die neue GroKo.
Blicken wir noch einmal kurz auf den Wahlkampf zurück. Wie lautet Ihre Analyse?
Der Wahlkampf war stark durch Personen geprägt, was für Deutschland eher unüblich ist. Die Kandidaten der Union und der Grünen haben klare Fehler begangen. Aber sie hatten auch jeweils innerparteiliche "Rückfall-Kandidaten", bei der Union Markus Söder und bei den Grünen Robert Habeck, die ihnen das Leben zusätzlich schwer gemacht haben. Da hatte die SPD den Vorteil, dass sie sich sehr früh sehr klar auf Olaf Scholz festgelegt hat. Und die Partei stand - anders als früher - geschlossen hinter ihrem Kandidaten.
Sind das die einzigen Gründe für den Erfolg von Scholz?
Nein, mutmaßlich hat er auch viele der Merkel-Wähler auf seine Seite ziehen können, Menschen, die vielleicht eher Mitte-links sind und nur wegen der Kanzlerin Union gewählt haben. Scholz konnte außerdem den Eindruck erwecken, er würde Merkels Politikstil weitertragen, auch wenn er in einer anderen Partei ist.
Viel Kritik wurde am Wahlkampf der Union laut, namentlich an dem von CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak aus Berlin geführten. Stimmen Sie zu?
Es ist ein grundsätzliches Problem: Ist eine Partei 16 Jahre lang an der Regierung, gibt es Verschleißerscheinungen, personelle und auch inhaltliche. Als die Werte der Union in den Umfragen noch relativ gut waren, hat man gedacht, es würde reichen, im Wahlkampf die Wähler der anderen Parteien zu demobilisieren. Das hat aber nicht funktioniert, dann hat man viel zu spät den Schalter umgelegt. Und das wurde auch noch von der CSU gefordert, was für den Wahlkämpfer Laschet maximal schwierig war.
Die Frage, die gestellt werden muss: Wäre mit Söder alles anders gekommen?
Söder hat die letzte Landtagswahl in Bayern bekanntlich auch nicht überwältigend gewonnen. Und auch jetzt ist es ein sehr schwaches Ergebnis der CSU. Dieses Narrativ, das da verbreitet wurde, dass man einen viel besseren Kandidaten gehabt hätte, das lässt sich im Nachhinein einfach nicht bewahrheiten. Söder hätte auch Probleme gehabt, andere als Laschet, aber auch Probleme.
Wie werden denn nun Ihrer Meinung nach die Koalitionsverhandlungen ablaufen?
Zäh. Es ist gut möglich, dass wir in diesem Jahr keine neue Regierung bekommen. Ich halte es für durchaus möglich, dass sich die Gespräche bis ins Frühjahr hinziehen, eventuell sogar noch länger. Beim letzten Mal war es auch schon so, dass Koalitionsverhandlungen in letzter Sekunde geplatzt sind. Der Vorteil unseres Systems ist ja, dass die Regierung weiterhin geschäftsführend im Amt ist. Das funktioniert, auch wenn keine großen Entscheidungen getroffen werden.
Ein Wort zu der chaotischen Wahl in Berlin, wo Stimmzettel ausgegangen sind und sich lange Schlangen vor den Wahllokalen gebildet haben. Wird das ein juristisches Nachspiel haben?
Sicher wird es Klagen geben, die haben wir nach jeder Wahl. Aber da gibt es auch Institutionen, die die Vorwürfe überprüfen. Ich gehe nicht davon aus, dass die Wahl wiederholt werden muss. Da haben wir in Deutschland sehr hohe Hürden.