"Ich möchte, dass es auch die Jungen bekommen": SPD-Politikerin Renate Schmidt plädiert für ein Wahlrecht von Geburt an

Renate Schmidt, die Grande Dame der SPD, fordert von ihrer Partei mehr Engagement in den Sozialen Medien – und klare Kante in Brüssel.
Natalie Kettinger
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"Ich kann nicht einsehen, warum 14-Jährige, die sich mit Umweltproblemen und anderen Dingen befassen, die sie selbst betreffen, nicht wählen dürfen", sagt Renate Schmidt im AZ-Interview.
"Ich kann nicht einsehen, warum 14-Jährige, die sich mit Umweltproblemen und anderen Dingen befassen, die sie selbst betreffen, nicht wählen dürfen", sagt Renate Schmidt im AZ-Interview. © Michael Matthey/dpa

München – Die langjährige Vorsitzende der Bayern-SPD Renate Schmidt schaffte, wovon ihre Genossen heute nur träumen können: Zwei Mal – 1994 und 1998 – holte die "rote Renate" als Spitzenkandidatin ihrer Partei bei der Landtagswahl in Bayern rund 30 Prozent der Stimmen. Vorher war die heute 80-jährige Fränkin Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages (1990 bis 1994) und anschließend 2002 bis 2005 Bundesfamilienministerin (2002 bis 2005).

Die AZ hat mit ihr über die anstehende Europawahl, die AfD, Ursula von der Leyen und ein Wahlrecht von Geburt an gesprochen.

AZ: Frau Schmidt, was bedeutet Ihnen Europa ganz persönlich?
RENATE SCHMIDT: Freiheit und Frieden sind für mich die zwei herausragenden Merkmale, die Europa kennzeichnen.

Haben Sie ein besonderes "europäisches Erlebnis"?
Ich erinnere mich daran, wie kompliziert es war, als ich in meiner Jugend mit meinem frisch angetrauten Mann nach Frankreich gefahren bin. Was man da alles beachten musste und welche Formalitäten zu erfüllen waren! Dann plötzlich fiel das alles weg – und es war wunderbar. Ich habe die jungen Leute ungeheuer bewundert, die die Schlagbäume zwischen Deutschland und Frankreich – zwei ehemals verfeindeten Nationen mit einer mehrere Hundert Jahre langen Geschichte der kriegerischen Konflikte – weggerissen und gesagt haben: "Wir gehören zusammen." Das darf man auf keinen Fall gering schätzen.

Jugendliche dürfen erstmals an die Wahlurne: Renate Schmidt ist für Abstimmungsrecht ab der Geburt

Sie haben 2013 ein Buch mit dem Titel "Lasst unsere Kinder wählen" veröffentlicht. Bei der Europawahl dürfen nun erstmals in Deutschland auch 16-Jährige ihr Kreuzchen machen. Zufrieden?
Nein. Junge interessierte Menschen haben mindestens dasselbe Recht zu wählen wie die Älteren. Ich kann nicht einsehen, warum 14-Jährige, die sich mit Umweltproblemen und anderen Dingen befassen, die sie selbst betreffen, nicht wählen dürfen – jemand, der in meinem oder in noch vorgerückterem Alter dement in einem Seniorenheim lebt, aber schon. Das ist eine große Ungerechtigkeit. Die Älteren berühren ihre Entscheidungen so gut wie nicht mehr, sie treffen sie für junge Menschen. Das finde ich nicht in Ordnung.

Wollen Sie den Älteren das Wahlrecht entziehen?
Nein! Aber ich möchte, dass es auch die Jungen bekommen. In meinem Buch plädiere ich für ein Wahlrecht von Geburt an und es gibt viele herausragende Menschen, die das für richtig halten, darunter der verstorbene Bundespräsident Roman Herzog und der Verfassungsrechtler Paul Kirchhoff. Vielleicht erlebe ich es ja noch – auch wenn uns viele für Spinner halten, was wir nicht sind!

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Die Studie "Jugend in Deutschland" hat allerdings gerade ergeben, dass 14,3 Prozent der 14- bis 29-Jährigen die AfD wählen würden. Wie erklären Sie sich das?
Das liegt am Medienverhalten der jungen Menschen. Deshalb müssen sich alle, die um ihre Stimmen werben, in den sogenannten neuen Medien etwas breiter machen. Zeitungen werden leider nur noch von einer kleinen bildungsbürgerlichen Minderheit gelesen. Die öffentlich-rechtlichen Fernsehsender werden nicht mehr gesehen, stattdessen wird irgendetwas gestreamt. Oder man informiert sich über TikTok – und da sind bedauerlicherweise nicht diejenigen unterwegs, die die Demokratie hochhalten, sondern jene, die sie abschaffen wollen.

Erfolg der AfD: "Filmchen" der Kandidaten sind ein Köder

Immerhin ist Bundeskanzler Olaf Scholz jetzt auch bei TikTok.
Schön, dass er das macht, das langt aber nicht! SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert hat mir erzählt, dass die Büros der AfD-Bundestagsabgeordneten ausgestattet sind wie professionelle Fernsehstudios und die aus jedem Kinkerlitzchen ein TikTok-Video machen. Wenn man dann versehentlich mal etwas von ihnen bei YouTube oder so anschaut, kommt postwendend Alice Weidel in Dauerschleife, und man kann das so gut wie nicht abstellen. Das ist die große Gefahr. Andere Bundestagsabgeordnete gehen der Arbeit nach, für die sie gewählt worden sind – während die AfDler Filmchen drehen, mit denen sie versuchen, die Leute zu ködern, aber für die wirklichen Probleme der Menschen keine Lösungen haben.

Auf Sylt grölen wohlhabende junge Leute zu einem Partyhit "Deutschland den Deutschen", im Rest der Republik werden Politiker und Wahlkampfhelfer angegriffen. Ist das eine Folge dieser Entwicklung?
Natürlich hängt das zusammen. Wir sollten uns aber davor hüten, so zu tun, als ob das die Mehrheit wäre. Wir haben hier in Nürnberg mit "Zammrüggn" eine parteiübergreifende Demokratie-Initiative gegründet und da zeigt sich, wie sehr sich die Menschen eigentlich nach Zusammenhalt sehnen. Das bedeutet aber um Himmels willen nicht, eine Einheitssoße über alle politischen Probleme zu gießen. Wir fünf Gründer sind in vielen inhaltlichen Fragen unterschiedlicher Meinung. Aber wir wissen, dass Demokratie darin besteht, dass man sich miteinander auseinandersetzt, dem anderen zuhört und akzeptiert, dass man nicht allein im Besitz von Weisheit und Wahrheit ist – und dann versucht, einen vernünftigen Kompromiss zu finden. Das will die große Mehrheit der Menschen und dem müssen wir endlich wieder gerecht werden. Demokratie lebt von Kompromissen.

Starke Verluste bei der SPD: Wie kam es zu dieser Entwicklung?

Die SPD liegt in den Europa-Umfragen aktuell auf Platz vier hinter Union, AfD und Grünen, im Bund rangiert sie fast zehn Prozent schwächer als bei der Bundestagswahl, und in Bayern hat sie bei der Landtagswahl historisch schlechte 8,6 Prozent eingefahren. Was ist los mit Ihrer altehrwürdigen Partei?
Vielleicht ist die Altehrwürdigkeit einer der Gründe für diese Entwicklung. Dass man denkt, die SPD hat es immer gegeben und es wird sie immer geben. Dieser Schuss kann unter Umständen nach hinten losgehen. Es kommt aber noch etwas Weiteres hinzu, das für alle demokratischen Parteien gilt: Wir brauchen eine optimistische Zukunftserzählung.

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Wie meinen Sie das?
Wir müssen den Menschen klarmachen, dass die Herausforderungen, die wir im Moment erleben – angefangen bei den entsetzlichen Kriegen in der Ukraine, in Israel und Gaza bis hin zum Klimawandel –, bewältigbar sind und dass es auch vor dem Hintergrund dieser Probleme eine Möglichkeit des guten Lebens gibt. Dazu gehört aber, dass man denen, die im teuren München keine Wohnung finden und deshalb pendeln müssen, nicht erzählt, sie müssten jetzt alle ein Elektroauto kaufen. Wovon denn bitteschön? Man muss diesen Menschen sagen: "Wir kennen eure Probleme und werden dafür eine Lösung finden."

Allerdings scheint nicht nur Deutschland nach rechts zu rutschen, sondern auch die Europäische Union, wenn man den Umfragen glaubt.
Und das ist erschreckend. Es ist offensichtlich so, dass viele Menschen nicht begreifen – und da müssen wir Politikerinnen und Politiker uns auch an die eigene Nase fassen -, wie gut Europa für uns in den letzten Jahrzehnten gewesen ist und wie wir gerade in Deutschland von der EU profitiert haben.

Keine klare Position zu rechten Parteien: SPD distanziert sich von Spitzenkandidaten-Prinzip

Als CSU-Politiker Manfred Weber 2019 trotz Spitzenkandidatur und erfolgreichem Wahlkampf nicht Kommissionspräsident wurde, war die Verärgerung auch in Ihrer Partei so groß, dass die deutschen SPD-Europaabgeordneten bei der Wahl zur Kommissionspräsidentin nicht für Ursula von der Leyen gestimmt haben.
Nachvollziehbar.

Nun geht die SPD-geführte Bundesregierung auf Distanz zum Spitzenkandidaten-Prinzip. Wie passt das zusammen?
Das liegt daran, dass die Unions-Spitzenkandidatin Ursula von der Leyen keine klare Position zu eventuellen Bündnissen mit rechtsgerichteten Parteien vertritt und das kann nicht sein. Wir können niemanden wählen, der in dieser Hinsicht keine eindeutige rote Linie zieht oder diese womöglich überschreitet.

Ursula von der Leyen und Manfred Weber argumentieren, Giorgia Melonis Fratelli und große Teile der EKR-Fraktion seien pro-ukrainisch, pro-europäisch und für Rechtsstaatlichkeit. Deshalb könne man mit ihnen - anders als mit der ID um Marine Le Pen – durchaus zusammenarbeiten.
Unsere rote Linie greift früher und ich glaube, dass die SPD gut beraten wäre, diese rote Linie aufrecht zu erhalten.

"Habe etwas dagegen, wenn Regierungschef Wählervoten vernachlässigen"

Es heißt, der französische Präsident Emmanuel Macron hätte auch nichts gegen Mario Draghi als Kommissionspräsidenten einzuwenden. Wäre der frühere Chef der Europäischen Zentralbank und Ministerpräsident Italiens Ihnen lieber als Frau von der Leyen?
Ich halte Herrn Draghi für einen ausgesprochen seriösen, bewanderten und kompetenten Menschen. Das steht außer Frage. Ich habe aber etwas dagegen, wenn Regierungschefs – wie wichtig sie auch sein mögen – versuchen, solche Entscheidungen unter sich auszukarteln und die Wählervoten einfach vernachlässigen.

Wer auch immer demnächst an der Spitze der EU steht: Welche drei Hauptaufgaben sollte sie oder er bewältigen – und wie?
Den Frieden sichern. Dafür habe ich zwar kein Patentrezept, doch ich bin mir sicher, dass wir es durch Waffen alleine nicht erreichen können. Das heißt auf keinen Fall, die Ukraine in irgendeiner Form alleine zu lassen. Aber wir sollten uns darüber klar werden, dass am Schluss Verhandlungen stehen müssen. Das Zweite ist, dass auf EU-Ebene noch mehr getan werden muss, um den Klimaschutz voranzubringen, und man sich nicht von ehemals gesetzten Zielen verabschieden darf. Außerdem glaube ich, dass ein Bürokratieabbau dringend notwendig ist. Es ist kein wohlfeiles, sondern ein sehr berechtigtes Gestöhne, das aus kleinen und mittleren Betrieben zu hören ist.

Haben Sie eigentlich schon Briefwahl gemacht?
Ja, ich kann so schlecht laufen, dass ich mir das Wahllokal erspare.

Das tun auch immer mehr Menschen, die noch gut zu Fuß sind. Per Brief zu wählen, scheint im Trend zu sein.
Wenn man 34 Möglichkeiten hat, sein Kreuz zu machen, ist es eben ganz vorteilhaft, wenn man sich in Ruhe zu Hause entscheiden kann.

Vielen Dank für das Gespräch, Frau Schmidt.

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  • Elisa am 05.06.2024 00:05 Uhr / Bewertung:

    "Wahlrecht von Geburt an" Oh. Mei. Dass sie damit freie und geheime Wahlen abschafft, ist der SPD-Dame wurscht. Oder ist es ihr gar recht? Ein Sargnagel mehr für unsere Demokratie.

  • Der wahre tscharlie am 05.06.2024 16:10 Uhr / Bewertung:
    Antwort auf Kommentar von Elisa

    Erklär mir bitte mal, inwiefern mit einem Wahlrecht von Geburt an freie und geheime Wahlen abgeschafft werden?
    Ich will ja nicht hoffen dass ihr so naiv seid und glaubt, dass die Eltern für ein einjähriges Baby ein Kreuz in der Wahlurne machen.

  • SagI am 04.06.2024 22:28 Uhr / Bewertung:

    "Immerhin ist Bundeskanzler Olaf Scholz jetzt auch bei TikTok." - Mag ja sein, aber wenn ihn keiner sehen will, bringt das nichts. Die AfD ist vielleicht doch etwas interessanter, weil sie in Politik und Medien als "Bösewicht" dargestellt werden und das lockt gerade junge Menschen.

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