Gutachten zum Atomstrom: Das Dilemma

Das Gutachten zum Atomstrom sollte den Konflikt entschärfen – jetzt heizt er ihn erst recht an: ein Kampf an allen Fronten.
BERLIN Seit Wochen hat die schwarz-gelbe Regierung auf dieses Papier gehofft: Das 250-seitige externe Gutachten solle endlich Klarheit, eine Rechenbasis und nüchterne Objektivität in die Atomdebatte bringen. Von wegen: Am Montag bei der Vorstellung der Inhalte zeigte sich, wie sehr schon die Interpretationen in der Regierung auseinanderklaffen. Und die Fronten nach außen – mit der Atombranche einerseits und der Opposition andererseits – sind verhärteter als je zuvor. Wirtschaftsminister Rainer Brüderle gestern: „Das ist kein Sommerspaziergang, das ist die Eiger-Nordwand.“
Was sagen die zuständigen Minister? Übers Wochenende haben sich Umweltminister Norbert Röttgen (CDU) und Wirtschaftsminister Rainer Brüderle (FDP) das Werk gemeinsam analysiert. Laut Medienberichten kam es dabei zu „Missstimmungen“. Die Ministerien dementierten pflichtschuldigst, aber beim Auftritt der Ressortchefs am Montag wurden die Meinungsunterschiede für alle gut sichtbar. Brüderle erklärte, aus der Studie ergebe sich, dass längere Laufzeiten etwa bis 2030 Einsparungen beim Strompreis von bis zu acht Milliarden mit sich brächten. Der größte Nutzen ergebe sich aus Laufzeiten von 12 bis 20 Jahren. Röttgen widersprach: Das Gutachten zeige, dass längere Laufzeiten nur „äußerst geringe“ Auswirkungen auf den Strompreis hätten, „allenfalls marginal, nicht entscheidend“. Auch bei den anderen Zielen, etwa der CO2-Reduktion, spiele der Atomstrom keine große Rolle, viel entscheidender sei etwa die Energieeffizienz von Gebäuden und Verkehr. Ihr Konflikt steht stellvertretend für den tiefen Riss innerhalb der Union zwischen Wirtschafts- und Umweltflügel.
Was steht denn nun im Gutachten? Komplett liegt es noch nicht vor. Interessierte Seiten lassen jeweils das für sie interessante durchsickern, dazu kommt, dass gleich drei Institute daran mitgearbeitet haben. Eines davon, das Energiewirtschaftliche Institut der Uni Köln, wird mit acht Millionen Euro von den Atomfirmen Eon und RWE gefördert. Kritiker unterstellen ihnen entsprechend gefärbte Zahlen, selbst schwarz-gelbe Koalitionäre sprechen von „fragwürdigen Methoden“.
Was will Bundeskanzlerin Angela Merkel? Sie hatte sich am Sonntag erstmals überraschend konkret festgelegt und die Zahl von 10 bis 15 Jahren genannt. Gestern allerdings ließ sie flugs zurückrudern: Ihr Sprecher Steffen Seibert erklärte, Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich noch nicht festgelegt. Sie habe nur gesagt, „aus fachlicher Sicht“ sei dies vernünftig. „Sehen Sie diese Äußerung aber im Zusammenhang mit dem, was sie hinterher gesagt hat.“ Außer den „fachlichen“ würden auch andere Kriterien in die Entscheidung einfließen: die Frage der Sicherheit und die Frage der politischen Durchsetzbarkeit. Denn: Mit jedem Jahr Laufzeit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass das ganze ohnehin in Karlsruhe scheitert. Denn je massiver die Verlängerung, desto eher müsste der Bundesrat zustimmen (Kasten), und den will Schwarz-Gelb mangels Mehrheit nicht fragen. FDP-Chef Westerwelle hatte sich gestern kurz nach Merkel ebenfalls auf 10 bis 15 Jahre festgelegt, Generalsekretär Christian Lindner nannte gestern 10 bis 20 Jahre.
Was macht die Opposition? Die hat über den Bundesrat einen guten Hebel. Zahlreiche Länder haben Klagen angekündigt, wenn sie nicht gefragt werden. SPD-Chef Sigmar Gabriel: „Es geht nicht um ein zukunftsfähiges Energiekonzept, sondern um knallharte Lobbypolitik für die Atomkonzerne. Die Kanzlerin verkauft die Sicherheit der Bevölkerung.“ Linke-Chefin Gesine Lötzsch: „Das ist schon wieder Klientelpolitik pur. Nach der Mövenpicksteuer kommt nun der RWE-Bonus.“ tan