Gründet Sahra Wagenknecht eine eigene Partei? Ex-Linken-Chef Klaus Ernst kann sich Beitritt "gut vorstellen"
Mit der Unterstützung in den Sozialen Medien ist das so eine Sache. Das musste auch Sahra Wagenknecht 2019 schmerzlich feststellen. Die beliebte Linken-Politikerin hatte im Sommer 2018 die Bewegung "Aufstehen" ins Leben gerufen. Innerhalb von nur vier Wochen hatten sich im Internet 100.000 Unterstützer der Gruppierung eingetragen. Bei Facebook gingen die Auftritte Wagenknechts für "Aufstehen" viral.
Doch in der der wahren Welt gelten andere Regeln. Als Anhänger der Bewegung Ende 2018 zur Demo in München bliesen, kamen gerade mal 100 Menschen – die meisten davon in gelben Westen. Anders als in Frankreich blieb die von Wagenknecht angedachte friedliche Revolte der Abgehängten auf Deutschlands Straßen aus. Die Organisation verlor sich in Lagerkämpfen. Als Wagenknecht die Spitze von "Aufstehen" verließ, war das Projekt endgültig gescheitert.
Sahra Wagenknecht: Bewegung "'Aufstehen' war ein Rohrkrepierer"
"'Aufstehen' war ein Rohrkrepierer", sagt der Politologe Benjamin Höhne der AZ. Er hat intensiv zu "Aufstehen" geforscht. Für den Professor in Münster ist klar: "Wagenknecht gelang es nicht, eine kampagnenfähige Struktur zu schaffen."
Doch an der Popularität Wagenknechts hat das gescheiterte Experiment nichts geändert. Im Gegenteil: Viereinhalb Jahre nach dem Scheitern von "Aufstehen" spricht vieles dafür, dass die einstige Kommunistin sich erneut an die Spitze eines eigenen Projekts stellt: Diesmal jedoch nicht in Form einer außerparlamentarischen Opposition, sondern als klassische Partei.
Immer wieder kokettierte Wagenknecht zuletzt mit dem Gedanken, eine solche zu gründen. "Es gibt eine riesige Leerstelle im politischen System. Ich würde mir ein Angebot wünschen, das sie schließt", sagte Wagenknecht im Juni. Sie will sich nach eigener Aussage noch in diesem Jahr entscheiden, ob sie eine eigene Partei gründet.
Sollte es die von politischen Beobachtern als linkspopulistisch eingeordnete Partei tatsächlich eines Tages geben, könnte sie auf großen Wählerzuspruch hoffen. Jeder fünfte Deutsche kann sich vorstellen, für eine solche Gruppierung zu stimmen – unter Linken-Anhängern ist es sogar jeder zweite, bei der AfD sind es 60 Prozent.
In Thüringen würden einer Umfrage zufolge 25 Prozent die Wagenknecht-Partei wählen. Damit wäre sie die stärkste Kraft, noch vor der vom Rechtsextremisten Björn Höcke geführten Landes-AfD – statt 32 Prozent wie in aktuellen Umfragen, käme diese nur mehr auf 22 Prozent.
Wähler von AfD, Linke und CDU zur Wagenknecht-Partei?
Auch Linke und CDU hätten einen Aderlass. Bei vielen Wählern kommt Wagenknechts wirtschafts-, sozial- und verteidigungspolitisch linker, aber bei der Flüchtlingspolitik konservativ-nationaler Kurs an.
"Eine Wagenknecht-Partei könnte vor allem der AfD Stimmen abnehmen", sagt auch Politologe Höhne. Auf AZ-Anfrage äußerte sich die im Saarland lebende Politikerin zunächst nicht. Klar ist: Hinter den Kulissen gibt es längst Pläne für eine Parteigründung, wie enge Wegbegleiter Wagenknechts hinter vorgehaltener Hand der AZ bestätigen.
In Ostdeutschland gab es Ende Juni Ärger, weil das Wagenknecht-Lager Kommunalpolitiker auf einen Parteiwechsel angesprochen haben soll. Linken-Urgestein Gregor Gysi schäumte. Beobachter gehen davon aus, dass eine mögliche Wagenknecht-Partei spätestens bei der Europawahl 2024 antreten dürfte.
Doch warum ist Wagenknecht nicht schon früher durchgestartet? Die Antwort gab sie jüngst selbst: "Es braucht nicht nur populäre Köpfe, sondern auch gute Organisatoren und viele solide Mitstreiter."
AZ-Recherche: Zahlreiche Wagenknecht-Unterstützer in Bayern
Zumindest in Bayern hat Wagenknecht nach AZ-Recherchen längst zahlreiche mögliche Unterstützer für kommende Wahlkämpfe – teils sogar prominente. Der ehemalige Linken-Bundesvorsitzende Klaus Ernst sagt: "Wenn mit Sahra Wagenknecht eine neue linke Partei entsteht, werden sich ihr sicher viele Mitglieder und Mandatsträger anschließen." Vor allem würden "viele wieder kommen, die die Linke bereits verlassen haben".

Als wohl erster Linken-Spitzenpolitiker outet sich der Schweinfurter Bundestagsabgeordnete als Unterstützer der Wagenknecht-Partei: "Auch ich kann mir gut vorstellen, einer solchen Partei beizutreten." Diese sei "weit über das Linken-Spektrum hinaus für viele Wähler interessant", so der Vorsitzende des Ausschusses für Klimaschutz und Energie des Bundestags.
Der frühere Top-Gewerkschafter hatte einst die WASG gegründet, in die es viele frühere Sozialdemokraten aufgrund Schröders Hartz-IV-Reform gezogen hatte. Knapp zwölf Prozent konnte die Linke nach der Fusion mit der WASG bei der Bundestagswahl 2009 erzielen. 2021 waren es nur mehr rund fünf Prozent. Ernst verweist darauf, dass 2009 fast jeder fünfte Arbeiter Linke wählte. Heute sei seine Partei für diese jedoch "kaum noch wählbar".
Gute Arbeit, faire Löhne, ausreichende Rente: Das wäre "der Job einer Partei mit Sahra Wagenknecht"
Klaus Ernst: "Statt sich, um die Interessen der einfachen Menschen zu kümmern, stellen wir Themen in den Vordergrund, die mit deren Lebenswirklichkeit kaum etwas zu tun haben.
Und weiter: "Statt grüner sein zu wollen als die Grünen, gegen eine Automobilausstellung zu demonstrieren oder Leute von oben her zu behandeln, weil sie nicht gendern, sollten wir uns viel mehr um gute Arbeit, faire Löhne und ausreichende Renten kümmern." Das wäre dann "der Job einer Partei mit Sahra Wagenknecht".
"Zentral ist, ob es Wagenknecht gelingt, auch vor Ort ausreichend Unterstützer für eine schlagkräftige Parteistruktur zu gewinnen", sagt Parteienforscher Höhne. Denn Plakate kleben sich nicht von selbst und Infostände wollen besetzt sein. Hans Christian Lange, bayerischer Landesvorsitzender von "Aufstehen", sagt: "Wir sind bereit, wenn Sahra sich bei uns meldet."
Doch das wird nicht reichen. Wagenknecht muss auch Teile der Linken-Basis für sich gewinnen. Manfred Seel, Spitzenkandidat der Linken für Schwaben bei der Landtagswahl sagt: "Ich bin offen für eine Partei von Sahra." Der Unternehmer ist Vorsitzender des Kreisverbands Donau-Ries, einem der mitgliedsstärksten im Freistaat. Er sagt aber auch: "Noch habe ich keinen Anruf bekommen."