Der Streit um die Atomkraft wird zum Wahlkampf-Thema

MÜNCHEN - Das Wahlkampfjahr 2009 hat sein erstes hitziges Thema: Atomkraft. Gestritten wird über die Sicherheit, die Laufzeiten, den Klimaschutz und die Alternativen. Der Ausgang der Debatte ist offen.
Die Atom-Lobby, CDU und CSU sind wenig begeistert. Die Grünen und alle Atomkraft-Gegner der Republik können ihr Glück kaum fassen. Und all das wegen Krümmel.
Seit das Pannen-Kernkraftwerk bei Hamburg am Samstag nach einem Kurzschluss zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Tagen abgeschaltet werden musste, ist die Kernkraft-Debatte wieder ausgebrochen. Auch, weil das Krisenmanagement des Betreibes Vattenfall eine Katastrophe war: Die zuständigen Behörden erfuhren nicht vom Energiekonzern, sondern von der Polizei von den Vorfall.
Gabriel tönt, Merkel hält sich bedeckt
Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) fordert, dass ältere Meiler wie Krümmel schnellstens abgeschaltet werden. Gabriel tönt: „Am 27. September entscheiden die Deutschen darüber, ob dieser Reaktor und sieben weitere länger betrieben werden, wie es CDU/CSU und Bundeskanzlerin Angela Merkel vorgeschlagen haben.“ Die Union, hält sich zurück. Kanzlerin Bundeskanzlerin Angela Merkel lässt ausrichten, sie habe keinen Zweifel daran, dass nur zuverlässige Anlagen in Betrieb seien. Auch sei sie nach wie vor für längere Laufzeiten der deutschen Atommeiler. Zumindest Greenpeace-Aktivisten können sich in diesem Tagen endlich mal wieder austoben: Gestern verriegelten sie das Eingangstor zum Pannen-Reaktor Krümmel. „Geschlossen wegen Unzuverlässigkeit“ stand auf den Transparenten.
Der deutsche Atomstreit des Jahres 2009 ist mehr als ein ideologischer Streit. Es ist ein Streit um Technologie, Klimawandel – und viel Geld. Deshalb ist auch noch völlig unklar, wer die Debatte für sich entscheiden wird. Die AZ klärt die Streit-Punkte.
Die Sicherheits-Frage: 14 der 17 Atomkraftwerke in Deutschland sind älter als 20 Jahre und bergen deshalb ein höheres Risiko als jüngere Meiler. Das Material wird älter. Was tun? Keine der Parteien will neue Atomkraftwerke. Also wird um die Kontrollen gestritten: Gabriel fordert, dass der Bund die AKW kontrollieren soll, nicht die Länder. Bayerns Umweltminister Markus Söder (CSU) ist dagegen.
Die Laufzeit-Frage: CDU und CSU wollen die Laufzeiten der Meiler verlängern, bis es genügend Strom durch alternative Energieträger gibt. Ähnlich sieht es die FDP. Die SPD hält hingegen an dem bis 2021 geplanten Ausstieg fest. Die Grünen und die Linken wollen die AKW sofort abschalten.
Die Klima-Frage: Kohlestrom deckt die Hälfte des deutschen Stromverbrauchs, Kernenergie knapp ein Viertel. Kann Kohle also den Atom-Anteil ersetzen? Aus Klimaschutz-Gründen sicher nicht: AKW stoßen nur 32 Gramm Kohlendioxid pro Kilowattstunde Energie aus. Braunkohlekraftwerke stoßen 1150 Gramm CO2 aus. Das Argument zieht in Zeiten, in denen Politiker mit Klima-Abkommen auftrumpfen wollen.
Die Endlager-Frage: Wohin mit dem Atom-Müll? Diese Frage ist bislang in keinem Land der Erde beantwortet. Auch in Deutschland nicht: Kein Bundesland will die strahlende Müllkippe haben. Politiker konnten sich deshalb auch nicht auf den Salzstock im niedersächsischen Gorleben als Endlager festlegen. Solange es kein Endlager gibt, lagern die AKW ihre abgebrannten Brennelemente selbst.
Die Ersatz-Frage: Deutschlandweit hatte Atom-Energie 2008 einen Anteil von 11,6 Prozent – in Bayern sind des zwei Drittel. „Wir können die 60 oder 70 Prozent Strom in Bayern, die wir durch Kernkraft bekommen, nicht einfach von heute auf morgen ersetzen durch andere Werke“, sagt Umweltminister Markus Söder. Im vergangenen Jahr betrug der Energie-Anteil aus erneuerbaren Energien (Wind, Wasser, Sonne) in Deutschland 7,4 Prozent. Unionspolitiker befürchten, dass sich Deutschland immer mehr Energie aus dem Ausland kaufen muss, um die Energielücke zu stopfen. So werde Deutschland abhängig – und riskiere, bei Liefer-Streitereien keine Energie mehr zu bekommen. Das Umweltbundesamt rechnet dagegen vor, dass die derzeitige Atom-Strom-Menge eingespart und ersetzt werden kann. Zum Beispiel durch Kraft-Wärme-Kopplung in Erdgas-Kraftwerken.
Die Preis-Frage: Die Mehrheit der Deutschen ist gegen Atomkraft. Aber bleibt das auch so, wenn die Preise von Öl, Gas und Kohle steigen? Die Atom-Lobby lockt: Atomstrom sei viel billiger. Die Lobbyisten wissen: Wenn es den Deutschen an den Geldbeutel geht, kann Atomstrom plötzlich wieder populär werden.
Volker ter Haseborg