Debakel für Merz: So lief der Moment der Nicht-Wahl

Berlin – Draußen vor dem Reichstagsgebäude scheint die Sonne, als sich drinnen die Katastrophe ankündigt. Im Plenarsaal ruft schrilles Glockengeläut die Abgeordneten zurück auf ihre Plätze. Es ist 10.06 Uhr, Bundestagspräsidentin Julia Klöckner will das Ergebnis der Kanzlerwahl verkünden. Der einzige Kandidat ist Friedrich Merz, und beim Blick in das Gesicht des CDU-Vorsitzenden schwant den Beobachtern, dass sich hier gerade ein historisches Ereignis anbahnt.
Als Klöckner ihre Stimme erhebt und um Ruhe bittet, ist die Sache klar. Die Rheinländerin, die bei der Sitzungseröffnung noch fröhlich ein paar Witze machte, blickt todernst. Was sie dann verkündet, hat es in der Nachkriegsgeschichte noch nie gegeben: Der Kandidat zur Wahl des zehnten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland ist im ersten Wahlgang durchgefallen. 316 Stimmen hätte Friedrich Merz mindestens gebraucht, um Nachfolger von Olaf Scholz (SPD) zu werden. Er bekommt nur 310.
Kanzlerwahl: Mit einer Niederlage haben nur wenige gerechnet
Friedrich Merz schaut ernst, als Klöckner an diesem 6. Mai 2025 den ebenso parlamentarisch-nüchternen wie historischen Satz sagt: "Der Abgeordnete Friedrich Merz hat die erforderliche Mehrheit von 316 Stimmen nicht erreicht." Der 69-Jährige wirkt konsterniert, er steht auf, es folgt ein kurzer Wortwechsel mit Unions-Fraktionschef Jens Spahn und dem parlamentarischen Geschäftsführer Steffen Bilger (CDU). Dann verlässt er den Saal. Zurück bleiben fragende Gesichter und eine ratlose Republik.
Die Möglichkeit, dass Merz durchfällt, war rein rechnerisch immer gegeben. Nur zwölf Stimmen Vorsprung hat seine Koalition aus Union und SPD für die sogenannte Kanzlermehrheit. Dass es zu einer Niederlage kommen würde, damit hatten allerdings nur wenige gerechnet, der Kandidat selbst am allerwenigstens. Eine Stunde vorher war Merz noch selbstbewusst und triumphierend lächelnd durch die Reihen des Plenums gegangen. Der Sauerländer unterhielt sich kurz mit den Fraktionschefs der Grünen und mit seinem Wahlkampf-Gegner Olaf Scholz.
Olaf Scholz (SPD) bleibt vorerst Kanzler
Dass etwas nicht stimmt, bemerken die Abgeordneten spätestens, als Julia Klöckner nicht mehr aufgeweckt fröhlich durch die Sitzung führt. Sondern mit ernster Miene die parlamentarischen Geschäftsführer – so etwas wie die Manager ihrer Fraktionen – hinter dem Pult der Bundestagspräsidentin versammelt. Es wird unruhig im Saal. Nach etwas mehr als fünf Minuten Unterredung kehren alle an ihre Plätze zurück. Kurzes Tuscheln zwischen Spahn, dem designierten Innenminister Alexander Dobrindt (CSU), Bilger und Merz. Spätestens da weiß der Mann, der eigentlich genau jetzt Kanzler sein wollte, dass das heute wohl nichts mehr wird.

Die Niederlage ist historisch, man kann durchaus von einer Schockstarre sprechen. Wer wissen will, wie schlimm es ist, muss nur in das Gesicht von Olaf Scholz blicken. Selbst ihm, der sonst nicht für ausdrucksstarke Mimik bekannt ist, ist die Aufregung im Gesicht abzulesen. Am Abend vorher ist er von der Bundeswehr mit dem Großen Zapfenstreich verabschiedet worden, jetzt dreht er sich um, blickt suchend in die eigenen Reihen. Auf den Tag genau vor einem halben Jahr zerbrach seine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP. Der politische Schwebezustand, der heute eigentlich beendet sein sollte, er dauert vorerst an. Und damit auch die geschäftsführende Kanzlerschaft von Olaf Scholz.
Merkels erste Kanzlerwahl: Ihr fehlten damals über 50 Union-Stimmen
Scholz‘ Vorgängerin Angela Merkel fehlten bei ihrer ersten Wahl 2005 über 50 Stimmen aus dem eigenen Lager. Bei der ersten Koalition von Union und SPD unter Kurt Georg Kiesinger erhielt der gar 60 Nein-Stimmen aus den eigenen Reihen. Die Kanzler Helmut Kohl und Konrad Adenauer mussten enge Wahlergebnisse hinnehmen. Merz hätte gewarnt sein können, gewarnt sein müssen. Doch sein Drang, endlich an die Spitze zu kommen, hat wohl alles überlagert.

Im Reichstagsgebäude überschlagen sich nach der Ergebnisverkündung die Ereignisse. Der designierte Kanzleramtsminister Thorsten Frei (CDU) stürmt vorbei an Journalisten die Gänge des Reichstags auf und ab. Aber er bleibt, wie es so seine Art ist, freundlich. Als die bayerische Landtagspräsidentin Ilse Aigner (CSU) ihn fragt, ob sie mitkommen dürfe, nimmt er sie in den Arm. "Aber natürlich" darf sie das. Wirklich entspannt scheint bei der CDU gerade nur eine zu sein: Ex-Bundeskanzlerin Angela Merkel, die von Journalisten umringt mit einem bedeutungsschwangeren "Soooo" den Saal verlässt.
AfD-Chefin Alice Weidel: "Herr Merz sollte direkt abtreten"
Kurz nachdem der Verrat an Merz öffentlich geworden ist, verlässt auch Grünen-Chefin Franziska Brantner den Plenarsaal. Sie schaut finster und besorgt drein, als sie durch den Kamerawald der wartenden Journalisten geht, als wäre sie Mitglied bei der Union. "Wir brauchen eine handlungsfähige Regierung. Die Wirtschaftet wartet drauf, Europa wartet darauf", sagt Brantner.
Der parlamentarische Geschäftsführer der AfD, Bernd Baumann, wirkt ähnlich überrumpelt. "Das ist so heftig, das hatte ich nicht erwartet. Sich so eine Blöße zu geben", meint Baumann. Er braucht einen Moment, ehe er die Situation für die eigene Partei nutzt. Merz brauche sich nicht wundern, dass er abgestraft wurde. Dann rattert er runter: Durchlöcherung der Schuldenbremse, 100 Milliarden für die Grünen, keine Zurückweisung von Flüchtlingen an den Grenzen.
Die AfD ist die Meisterin der taktischen Spielchen im Parlament. Wenn Merz im zweiten Wahlgang knapp gewählt wird, könnte es heißen, er habe das nur durch Stimmen der AfD erreicht. Wollten sie nicht die AfD kleinregieren? "Die Kanzlerwahl spricht für den politischen Zustand unseres Landes", sagt Co-Fraktionschefin Alice Weidel. Ihre Partei hatte vorher schon angekündigt, dass sie Merz nicht wählen wird. Jetzt fordert sie drastische Konsequenzen: "Herr Merz sollte direkt abtreten und es sollte der Weg geöffnet werden für Neuwahlen in unserem Land."
Designierte Außenminister (CDU): "Das ist kein Drama"
Während die Reporter das Szenario eines Kanzlers von Gnaden der AfD durchspielen, hat sich Merz mit seiner Garde in das Büro des Fraktionschefs zwei Etagen weiter oben zurückgezogen. SPD-Chef Lars Klingbeil, der zu diesem Zeitpunkt eigentlich längst Vizekanzler sein wollte, ist auch dabei. Das Büro wird von einem Trupp Kameraleuten, Fotografen und Reportern belagert. Nach kurzer Beratungszeit schiebt sich erst der SPD-Vorsitzende grußlos durch die Menge, wenig später folgen Merz und Fraktionschef Jens Spahn.

Im Saal der Abgeordneten von CDU und CSU herrscht eine Stimmung zwischen Niedergeschlagenheit und Entrüstung. Krisensitzung. "Krass" ist das Wort, das wohl am häufigsten fällt. Spahn redet, Merz sitzt schweigend daneben. Spahn stärkt dem Geschlagenen den Rücken. Die Abgeordneten spenden trotzig Applaus. Nach der Sitzung macht der designierte Außenminister Johann Wadephul den Fehler, nicht den Hinterausgang zu nehmen. Auch er wird sofort belagert, kommt nicht weg. "Das ist kein Drama", flüchtet sich der Norddeutsche in Durchhalteparolen. Abgeordnete seien keine Wahlmaschinen, sondern ihrem Gewissen verpflichtet. "Ich will jetzt eigentlich den Aufzug nehmen", versucht er sich zu befreien. Doch der Ausbruch gelingt nicht. Eigentlich sollte Wadephul am Nachmittag von Annalena Baerbock (Grüne) die Schlüssel zum Auswärtigen Amt bekommen. Das muss nun wohl warten.
Bayerische SPD-Abgeordnete aus Landsberg: "Es herrschen schon wieder Ampel-Vibes"
Auch die Sozialdemokraten treten in Fraktionsstärke zusammen. "Wir waren es nicht, wir haben gestanden", lautet der Tenor. Es wurde geheim mit Namenskarten abgestimmt. Wer genau wie votiert hat, wird die Öffentlichkeit nicht erfahren. Sowohl in den roten Reihen als auch bei den Konservativen hätten viele Leute viele Gründe, Friedrich Merz eine mitzugeben. Seine manchmal aufbrausende Art, die Abstimmung mit der AfD nach dem Messerangriff von Aschaffenburg und natürlich die persönlichen Karrieren, die mit der neuen Regierung enden?
Die SPD-Abgeordnete Carmen Wegge aus Landsberg sagt, das Ergebnis sei wirklich schlecht. "Es herrschen schon wieder Ampel-Vibes". Genau das wollten sie eigentlich hinter sich lassen. Das Misstrauen, die bösen Unterstellungen, das "wir gegen die". Nun liegt auf einem schwarz-roten Bündnis eine schwere Bürde, bevor es seine Arbeit aufgenommen hat.
Manfred Güller ist der Gründer des Meinungsforschungsinstituts Forsa, er beobachtet die Bundespolitik schon seit vielen Jahrzehnten, der Vorgang aber macht selbst ihn zunächst ein wenig sprachlos. "Das gefährliche an diesem Vorgang ist aus meiner Sicht, dass das demokratische System beschädigt wurde. Das ohnehin gering gewordene Vertrauen in die Politik könnte weiter sinken", sagt er am Telefon und bestätigt den ersten Eindruck: "Für die AfD dürfte das ein weiterer Aufwind sein."
Politik-Forscher über Merz: "Er bleibt zunächst angeschlagen"
Wie es nun weitergeht, ist bis zum Mittag noch offen. Einen Wahlgang scheint es an diesem Dienstag nicht mehr zu geben. In den nächsten Tagen dürfte es Merz noch einmal versuchen. Er bräuchte wieder eine Kanzlermehrheit. Erst im dritten Wahlgang reichte die Mehrheit der abgegebenen Stimmen. In den Protokollabteilungen der Ministerien bricht Hektik aus. Die Einladungen zu den diversen Amtsübergaben sind bereits verschickt, das alles gilt jetzt erst einmal nicht mehr.
Auf den Gängen des Reichstagsgebäudes wird inzwischen sogar die Frage diskutiert, ob Merz Kandidat bleiben kann. Alles andere hätte jedoch so schwerwiegende Komplikationen – bis hin zu Neuwahlen -, dass er mit einiger Sicherheit erneut antreten wird. Doch er ginge so beschädigt ins Amt, wie noch kein Kanzler vor ihm. "Selbst wenn Herr Merz im nächsten Wahlgang gewählt wird, bleibt er zunächst angeschlagen", konstatiert Manfred Güllner. Merz sei schon vorher wenig beliebt gewesen. "Diese Niederlage dürfte zunächst an ihm haften bleiben", sagt der Meinungsforscher, der auch weiß: "Die Wählerinnen und Wähler vergessen so schnell nicht."