60 Jahre Römische Verträge: Alles Gute, Europa!
Teil 1: Die Geburtsstunde der EU
Die Vorstellung, dass der große Plan von einem vereinigten Europa beinahe an der Banane gescheitert wäre, gehört zweifellos zu den wenigen Kuriositäten der Zeit, als vor 60 Jahren die Römischen Verträge entstanden. Zwar durften sich damals nur sechs und nicht 28 Länder Mitglieder dieser noch jungen Union nennen. Dennoch war das Vorhaben so umstritten wie heute. So notierte der spätere belgische Außenminister und Chef-Unterhändler der Römischen Verträge, Paul-Henri Spaak, in seinen Memoiren: „Man stritt um den Zoll für Bananen, ohne müde zu werden, über einen Unterschied von wenigen Prozent. Ich war mit meiner Geduld am Ende und erklärte, ich gäbe den Streitern zwei Stunden Zeit, sich zu einigen, widrigenfalls ich die Presse zusammenrufen und ihr mitteilen würde, es sei unmöglich, ein vereintes Europa zustande zu bringen, denn wir könnten uns nicht in der Bananenfrage einigen.“
Und der Trick gelang. Europa konnte am 25. März 1957 geboren werden. In einer feierlichen Zeremonie, von der der damalige Kanzler Konrad Adenauer sagte, man erlebe hier das „vielleicht wichtigste Ereignis der Nachkriegszeit“.
Tatsächlich herrschte nichts als blanke Euphorie an diesem Morgen im Kapitol der italienischen Hauptstadt. Die Staats- und Regierungschefs sowie die Außenminister von Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Belgien, Luxemburg und Italien setzten ihre Unterschriften unter den Vertrag, mit dem sie neben der 1952 gegründete Montanunion (für Kohle und Stahl) und der Atomgemeinschaft Euratom die dritte Säule ihrer Zusammenarbeit schufen. Wobei bis heute unklar ist, was die Herren damals eigentlich wirklich unterschrieben.
Von Putzfrauen entsorgt: Das Original der Verträge
Noch 2014 erzählte der damalige Kommissionspräsident José Manuel Barroso die Anekdote, dass das Original der Römischen Verträge in der Nacht zuvor von Putzfrauen entsorgt worden sei. Der Text war nämlich in einem feuchten Keller gedruckt worden, also hatten Helfer die ausgedruckten Seiten im römischen Kapitol ausgebreitet, damit sie trocknen konnten. Als der Verlust auffiel, wurden alle Abfallkörbe durchwühlt. In der Not behalf man sich auf eine juristisch höchst fragwürdige Weise: Die Staats- und Regierungschefs sowie die Außenamtschefs unterzeichneten nur eine Seite des Originals, die vermeintlichen Verträge waren tatsächlich leeres Papier. Erst später fügte man das Unterschriftenblatt und die erneut gedruckten Vertragsexemplare zusammen – rein rechtlich also Urkundenfälschung.

Doch selbst wenn die Chefs es gewusst hätten, wären sie wohl kaum auf den Gedanken gekommen, die „geschichtliche Stunde“ (Adenauer) zu riskieren. Alle Spitzenpolitiker am Tisch kannten den Krieg, der erst zwölf Jahre zuvor beendet worden war. Viele Städte lagen noch in Trümmern. Fünf der sechs Länder, die da ihre künftige Zusammenarbeit, ihren Frieden und ihren Wohlstand versprachen und sichern wollten, waren zuvor von Deutschland besetzt gewesen.
60 Jahre später leidet sie unter Altersdepression
Und nun das: Die Idee einer Union, die miteinander Handel ohne Grenzen treiben wollte, um sich so gegenseitig als Lieferanten und Abnehmer aus dem Dunkel der Kriegszeit herauszuhelfen. Der Weg dahin blieb hart. Denn natürlich ging es nicht nur um die Banane. 60 Jahre später leidet diese Gemeinschaft unter Altersdepression. Ein Platz in Rom bleibt an diesem Samstag unbesetzt: Die britische Premierministerin Theresa May wird nicht dabei sein. Es ist eine schräge Art von Pietät, die sie damit zum Ausdruck bringen will. Denn vier Tage später wird May den Austritt aus der Union erklären und das Artikel-50-Verfahren auslösen. Die EU, die jahrzehntelang nur gewachsen ist, schrumpft zum ersten Mal.
Teil 1: Die Geburtsstunde der EU
Teil 2: Fünf Krisen, die die EU überlebt hat
Teil 3: Wer hat die Macht in der EU?
Teil 4: Brüsseler Sündenböcke: Der aktuelle Zustand der EU

Nach dem Brexit-Schock steckt die Europäische Union tief in der Krise. Aber Rückschläge hat die EU in den vergangenen 60 Jahren auch immer wieder überwunden.
Ein Überblick:
FRANKREICH-VETO: Als Großbritannien 1963 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft der sechs Gründerstaaten beitreten will, legt Frankreichs Präsident Charles de Gaulle sein Veto ein. Großbritannien sei weder politisch noch wirtschaftlich reif, argumentiert er. Erst sein Nachfolger Georges Pompidou bringt die Wende. Der Beitritt der Briten gelingt 1973 – zehn Jahre nach dem ersten Antrag.
EUROSKLEROSE: Von Mitte der 70er bis Anfang der 80er Jahre schwächelt die Gemeinschaft wirtschaftlich und auch politisch. Von „Eurosklerose“ ist die Rede. Die Konkurrenz aus den USA und Japan macht dem europäischen Markt zu schaffen. Die Mitgliedsländer versuchen, ihre Märkte zu schützen und nationale Interessen durchzusetzen. Die Krise wird überwunden durch neuen Schwung nach den Beitritten von Spanien und Portugal und dem Plan eines gemeinsamen europäischen Binnenmarkts.
ABLEHNUNG DES MAASTRICHTER VERTRAGS: Es soll der Startschuss zur europäischen Wirtschafts- und Währungsunion sein. Doch die Dänen sagen in einem Referendum Nein zum Vertrag von Maastricht und setzen das politische Europa 1992 unter Schock. Elf Monate vergehen, bis ein Kompromiss mit Sonderrechten ausgehandelt wird, dem die Dänen dann schließlich zustimmen.
SANTER-KOMMISSION: Mehrere Mitglieder der vom Luxemburger Jacques Santer geführten EU-Kommission müssen sich einem Misstrauensvotum im Europäischen Parlament wegen möglicher Betrugsaffären stellen. Ein von „fünf Weisen“ erstellter „Bericht über Betrug, Missmanagement und Vetternwirtschaft“ besiegelt kurz darauf das Schicksal der Santer-Kommission. Das gesamte Kollegium tritt im März 1999 zurück.
SCHEITERN DER EU-VERFASSUNG: Mehr Demokratie und Transparenz – darum geht es 2005 in dem mühsam ausgehandelten „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ der damals 25 EU-Staaten. Doch die Franzosen und die Niederländer lehnen die EU-Verfassung bei Volksabstimmungen ab. An ihre Stelle tritt letztlich 2009 der Vertrag von Lissabon, der ähnliche Ziele verfolgt.
Teil 1: Die Geburtsstunde der EU
Teil 2: Fünf Krisen, die die EU überlebt hat
Teil 3: Wer hat die Macht in der EU?
Teil 4: Brüsseler Sündenböcke: Der aktuelle Zustand der EU
Von EU-Kommission bis EZB: Wie sich die Organe zusammensetzen und wer was bestimmt. Wer hat das Sagen in der EU? Das regelt der „Vertrag über die Europäische Union“ – darin steht, welche Organe die Gemeinschaft hat.
Die sieben Schaltzentralen
Europäischer Rat: Die (noch) 28 EU-Staats- und Regierungschefs wie Bundeskanzlerin Angela Merkel und François Hollande treffen sich meist vierteljährlich im Europäischen Rat in Brüssel – dem wichtigsten Organ der EU –, dessen Vorsitz Donald Tusk hat. Dabei legt der Rat die politische Agenda der EU fest. Er darf aber keine Rechtsvorschriften erlassen.
Ministerrat: In Brüssel treffen sich im Rat der EU (nicht zu verwechseln mit dem Europäischen Rat) je nach Thema die Ministerinnen und Minister aus jedem Staat. Der Rat bildet gemeinsam mit dem Parlament die Legislative und erlässt somit Gesetze. Der Vorsitz (aktuell: Malta) wechselt halbjährlich zwischen den Mitgliedsstaaten.

Kommission: Die Europäische Kommission unter dem Vorsitz von Jean-Claude Juncker besteht aus 28 Kommissaren – einer aus jedem EU-Land – und sitzt in Brüssel. Die politisch unabhängige Exekutive der EU entspricht der Regierung in einem staatlichen System. Die Aufgaben bestehen darin, Vorschläge für neue Rechtsvorschriften zu erarbeiten, Beschlüsse des Parlaments und des Ministerrats umzusetzen und den EU-Haushalt zu verwalten.
Parlament: Das Europa-Parlament (EP) hat seinen Sitz in Straßburg, im Plenarsaal finden pro Jahr zwölf Sitzungen statt. EP-Präsident ist Antonio Tajani, der Nachfolger von Martin Schulz. Dem größten multinationalen Parlament gehören 751 Abgeordnete an. Europas 500 Millionen Bürger wählen sie direkt (Europawahlen). Das EP hat vier Aufgaben: Zum einen beschließt es neben dem Ministerrat Gesetze (Gesetzgebungsfunktion). Zudem stellt das Parlament den Haushaltsplan auf (Budgetierungsfunktion). Außerdem kontrolliert es die Kommission und den Rat der EU (Kontrollfunktion). Und die Abgeordneten wählen den Präsidenten der Kommission (Wahlfunktion).
Zentralbank: Die Europäische Zentralbank (EZB) mit Präsident Mario Draghi sitzt in Frankfurt, regelt die Geldpolitik im Euro-Raum und legt Wert auf Währungs- und Preisstabilität. Die EZB steht aktuell wegen ihrer Niedrigzins-Politik in der Kritik.
Rechnungshof: Der Europäische Rechnungshof (EuRH, in Luxemburg) kümmert sich um die Rechnungsprüfung – er kontrolliert alle Einnahmen und Ausgaben der EU. Entdeckt der EuRH Ungereimtheiten, meldet er diese an die anderen EU-Organe.
Gerichtshof: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg sorgt dafür, dass das EU-Recht eingehalten wird (Judikative). Zudem überprüft er, dass die Institutionen rechtmäßig handeln und die Mitgliedstaaten ihren EU-rechtlichen Verpflichtungen nachkommen. (Autor: Otto Zellmer)
Teil 1: Die Geburtsstunde der EU
Teil 2: Fünf Krisen, die die EU überlebt hat
Teil 3: Wer hat die Macht in der EU?
Teil 4: Brüsseler Sündenböcke: Der aktuelle Zustand der EU

Großbritannien tritt aus, die Flüchtlingskrise schwelt weiter und einige Staaten sind in massiven finanziellen Schwierigkeiten: Europa ist zu einem Kontinent voller Krisen geworden. Eine AZ-Analyse.
Die Europäische Union durchlebt – im Jahr ihres 60. Geburtstages – eine seltsame Krise. Hunderttausende Flüchtlinge suchen nach Schutz, verkünden die Realität eines Lebens in Krieg und Verfolgung und zeigen uns, welche Oase aus Frieden, Wohlstand und wirtschaftlichem Wachstum in sechs Jahrzehnten entstanden ist. Doch für viele, die diese Union Tag für Tag erleben, scheint sie nicht mehr als ein verkrustetes, bürokratisches Monster zu sein, das seine Mitglieder mit Bevormundung und Vorschriften gängelt.
„Europa ist in keinem guten Zustand“, hatte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker bereits im Herbst 2015 analysiert. Da war vom Brexit noch keine Rede, da stand eine neue Bankenkrise noch nicht vor der Tür. Aber die Solidarität der Mitgliedstaaten verdunstete bereits. Die 28er-Gemeinschaft versagte an ihrem eigenen Anspruch, die Antwort auf die Globalisierung zu sein. Eine Jugendarbeitslosigkeit von in einigen südlichen Regionen deutlich über 50 Prozent kann man nicht schönreden.
Das Geschacher um legale und illegale Zuwanderer ist beschämend. Natürlich kennen die Regierungen, die das eigentliche Machtzentrum bilden, die Antworten, die nötig wären. Dass sie nicht dazu stehen, hat wenig mit Courage, aber ganz viel mit Furcht vor unbequemen Wahrheiten zu tun, die sie uns Wählern eigentlich zumuten müssten: Wir brauchen Zuwanderung. Wir brauchen Zusammenhalt. Wir brauchen eine starke Union, die sich Handelspartner sucht und mit ihnen Verträge schließt.
Wir lassen es zu, dass diese Union geschwächt wird
Noch stehen die europäischen Staaten für rund 22 Prozent des Welthandelsvolumens. Geht Großbritannien, sind es weniger als 15 Prozent. 2025 rechnen Experten nur noch mit zehn Prozent. Dann werden andere Standards setzen, nicht mehr die Europäer. Das Gewicht der EU geht zurück, trotzdem lassen wir zu, dass diese Union geschwächt wird, in Bruchstücke zerfällt. Der Brexit-Wahlkampf hat gezeigt, dass man mit Lügen und Halbwahrheiten diese Union zersetzen kann.
Fatal an dieser Entwicklung ist weniger die Polemik, sondern dass die EU an einem Punkt angekommen ist, an dem man solches Gerede für bare Münze nimmt. Es wäre töricht, dies an Personen oder Institutionen festzumachen, weil selbst der beste Apparat hilflos ist, wenn die Mitgliedstaaten sich querlegen. Das Misstrauen der EU-Gegner bleibt verständlich. Zu offensichtlich scheinen Europa die Erfolgsbotschaften abhandengekommen zu sein – was allerdings Unsinn ist, wenn man nur genauer hinsieht. Dass überall in Europa aus Steckdosen Strom und aus Pipelines Gas fließt, so dass die Heizungen auch im Winter warm bleiben, war noch vor wenigen Jahren nicht selbstverständlich. Dass heute sogar für die kleine Gruppe schwerstkranker Kinder getestete Medikamente zur Verfügung stehen, gehört zu Errungenschaften europäischer Förderung. Die Liste ließe sich sehr lange fortsetzen.
Dennoch: Wenn es Menschen schlecht geht, wird alles, was fremd ist, als Sündenbock wiederentdeckt – europäische Integration hin, nur gemeinsam lösbare Probleme her. Dabei ist die europäische Botschaft eigentlich einfach und in der Krise höchst aktuell. Wenn Kinder in Brüssel zu Besuch sind, erklärt man ihnen die Rolle der EU anschaulich: Man gibt ihnen ein Stöckchen und lässt es zerbrechen. Das ist einfach. Dann gibt man ihnen (derzeit noch) 28 Stöckchen. Sie scheitern.
Die EU hat Probleme. Aber dass sie gebraucht wird, ist unbestreitbar.
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