X-Cess-Legende Isi Yilmaz: Vom Nachtbar-Wirt zum Friedhofsgärtner
Ismail Yilmaz ist eine lebende Legende des Münchner Nachtlebens. 16 Jahre lang betrieb er die berüchtigte Bar X-Cess. Im Interview mit der Abendzeitung blickt er zurück und erzählt auch von seinem neuen Job. Wir treffen ihn bei seinem Kumpel Themistoklis, Chef der Taverne Anti. Es läuft griechische Popmusik.
AZ: Herr Yilmaz, wenn Sie zurückblicken, auf die Jahre als Barchef, was empfinden Sie?
ISMAIL YILMAZ: Es war die Hölle. Eine richtig geile Hölle.
Wie meinen Sie das?
YILMAZ: Die Abende waren wie ein Rausch. Vor allem an der Jahnstraße. Ich setzte meine Militärmütze auf und war in einer anderen Welt. Eine Welt mit gut gelaunten, spannenden Leuten. Auch die Schlechtgelaunten waren hier gut gelaunt.
Das hatte bestimmt auch mit dem bayerischen Champagner zu tun. Bier aus dem Sektglas.
YILMAZ: Na klar, Alkohol floss in großen Mengen. Das Bier aus dem Sektglas war in Sekunden leer. Bums, bums, bums.
Sie waren jeden Tag an der Bar. Immer Alkohol griffbereit. Jemals Angst gehabt, zu viel davon abzubekommen?
YILMAZ: Nein. Ich hatte nie ein Problem damit. Einige Freunde glaubten mir das nicht. Wir haben mal gewettet: Ein Jahr ohne Alkohol. Es war hart. Ich habe es geschafft. Stimmt's Themis?
THEMISTOKLIS: So war es. Hier, kleines Bier und Tsipouro. Muss ja was vorangehen. Auch für Sie.
Aber während der Arbeit ...
THEMISTOKLIS: (hebt das Schnapsglas) Yamas!
Na gut, yamas. Herr Yilmaz.
YILMAZ: Nenn mich bitte Isi. Niemand nennt mich Herr Yilmaz.

Isi: Dönerverkäufer "war überhaupt nicht mein Ding"
Isi. Wenn Sie heute an der Jahnstraße vorbeigehen, am alten X-Cess ...?
YILMAZ: Gänsehaut. Jedes Mal.
Nach so langer Zeit? Sie haben dort 2010 die Tür für immer abgeschlossen.
YILMAZ: Es war Schicksal. Ernsthaft. Kennen Sie die Geschichte, wie das X-Cess entstanden ist?
Es begann als Dönerbude.
YILMAZ: Genau, ja. Der Laden hieß Blue House. Er gehörte dem Schwager meiner Frau und mir. Ich war gerade entlassen worden, bei der Papier- und Geldfabrik Giesecke und Devrient.
Sie machten daraus eine Bar?
YILMAZ: Nein, ich versuchte es als Dönerverkäufer. 2000 war das ungefähr. Das war überhaupt nicht mein Ding. Dann kam einiges zusammen. Erst waren raue Mengen Alkohol verschwunden. Einfach weg. Ungebucht. Ich stellte meinen Schwager und den Geschäftsführer zur Rede. Der Geschäftsführer nannte übrigens damals den Laden in X-Cess um.

Und wo war der Alkohol?
YILMAZ: Beide zuckten mit den Schultern. Ich hab' dann alleine weitergemacht.
Aber dann wurde eine Bar daraus.
YILMAZ: Nein, ich wollte ernsthaft immer noch Döner verkaufen. Ich bin der schlechteste Dönerverkäufer der Welt. Irgendwann hat mich mein Kumpel Christos vom Plattenladen Optimal besucht. Er erkannte das Elend und sagte: Komm, wir spielen hier abends Musik. Ich erinnere mich, als ob es gestern gewesen wäre. Der 25. Todestag von Elvis Presley, 16. August 2002. Christos brachte Plattenspieler und Boxen. Hinter mir drehte sich der Dönerspieß, vor mir drehten sich die Plattenteller. Die Leute kamen rein, kauften ein Bier. Sie hörten sich die Musik an und tanzten dazu!
Und dann haben Sie das X-Cess daraus gemacht?
YILMAZ: Mein Schwager hat mich dann erlöst. Er tauchte auf und sagte: Das Inventar gehört mir! Er packte den Dönerspieß ein, samt allen Geräten, und ging.
Das war das Schicksal also?
YILMAZ: Genau. Freiwillig bin ich nicht Wirt geworden, ich konnte nicht mal Bier zapfen.
Sie sagten: richtig geile Hölle. Was war daran die Hölle?
YILMAZ: Die ewige Zankerei mit den Behörden. Lärmbelästigung, Auflagen. Irgendwann zog ein Anwalt hierher. Er ärgerte mich jahrelang. Ich mein, wie musst du drauf sein? Du ziehst in die Jahnstraße, wo eine Bar ist, die bis ein Uhr geöffnet hat. Und dann beschwerst du dich genau über diese eine Kneipe? Er verteilte Flugblätter. Der hatte nicht mal Kinder. Ich verstehe solche Leute nicht. Der Typ war die Hölle. Ich musste kämpfen. Auch die Wäscherei nebenan beschwerte sich mal. Absurd. Der Zigarettenrauch würde vom Lokal aus in die Wäscherei ziehen. Und als dann auch noch die Sperrzeit verkürzt wurde, war das der Todesstoß für das X-Cess in der Jahnstraße.
THEMISTOKLIS: (schenkt noch drei Tsipouro ein, bringt frittierte Sardellen mit Oliven und getoastetem Baguette). Yamas!
Von mir aus, yamas.
YILMAZ: Wenn es bei Themis mit Meze losgeht (Schlemmereien zum Getränk, d. Red.), kommt irgendwann das bittere Ende.
Sie beide kennen sich schon lange, oder?
YILMAZ: 40 Jahre ungefähr.
THEMISTOKLIS: Wenn du trinkst, musst du essen. Wenn du isst, musst du trinken. Ungeschriebenes Gesetz. Noch ein Bier?
"Alle Zeitungen kamen zu mir"
Während der Arbeit? Okay, ein Radler. Herr Yilmaz...
YILMAZ: Isi!
Isi. Das alte X-Cess stand sogar in der "New York Times".
YILMAZ: Ja, 2006, kurz bevor der Anwalt hergezogen ist. Ich wusste nichts davon, danach ist der Laden explodiert. Alle Zeitungen kamen zu mir. Immer voll. Hauteng. Wer bei mir an der Jahnstraße nicht geflirtet hat, war selbst schuld.
Es war die Zeit lange vor der Online-Partnersuche.
YILMAZ: Die beste Kennenlernbörse, die man sich vorstellen kann. Der direkte Kontakt reißt
Wände ein. Die Leute kamen sofort ins Gespräch.
Bildeten sich viele Paare?
YILMAZ: Ich glaube, ich war auf hundert Hochzeiten eingeladen.
Wollten Sie immer eine Bar haben?
YILMAZ: Nein, nie.
Was wollten Sie denn werden?
YILMAZ: Handwerkliches hat mich interessiert. Müllwagenfahrer wäre was für mich gewesen. Ich hätte mal fast eine Ausbildung an der Drehbank angefangen, aber mein Deutsch war schlecht. Mein Vater hat mein Leben verkackt (lacht).
"Wenn du schon ertrinkst, dann im Meer, nicht in der Badewanne"
Ihr Vater?
YILMAZ: Er hat mich und meine Mutter 1970 nach Deutschland geholt, nach Marburg. Er war dort Metallarbeiter. Ich war ein glückliches Kind und schon in der erste Klasse. Dann hat er mich 1972 abgeschoben, zu meiner Tante, in ein Dorf nahe Salihli, bei Izmir. Er wollte, dass ich unbedingt in der Türkei in die Schule gehe. Er hat es gut gemeint. Als es dann kurz vor dem Putsch 1980 unsicher wurde - Meutereien, Schießereien, Ausgangssperren -, hat er mich 1979 zurückgeholt. Ich konnte weder Deutsch noch Türkisch so richtig. Aber gut, ich habe andere Talente.
Wenn Sie in Deutschland geblieben wären, hätten Sie vielleicht das X-Cess nie eröffnet.
YILMAZ: Hab ich ja auch nicht. Es sollte doch eine Dönerbude werden.
Wie und wann sind Sie nach München gekommen?
YILMAZ: Oktoberfest 1989. Ich habe mich in diese Feier verliebt und bin geblieben. Wenn du schon ertrinkst, dann nicht in der Badewanne, sondern im Meer. München war das Meer. Marburg wirkte plötzlich so klein.
Sie hatten im X-Cess immer eine Militärmütze auf.
YILMAZ: Russenmütze! Luftwaffe.

Woher kam die?
YILMAZ: Die hat mir mein Bruder aus Berlin mitgebracht.
THEMISTOKLIS: Echt, Luftwaffe? Wusste ich gar nicht.
Die Mütze ist jetzt im Stadtmuseum.
YILMAZ: Ja, eine Leihgabe für drei Jahre.
X-Cess? Eine schöne Zeit. Aber auch gut, dass sie vorbei ist"
Sie wollten die Mütze Ihrem sechsjährigen Sohn zeigen, aber Sie durften nicht rein.
YILMAZ: Ich war genesen und doppelt geimpft. Aber ich hätte noch einen Schnelltest machen sollen. Dafür hatte ich keine Zeit (kurze Pause). Ja das X-Cess, eine schöne Zeit. Aber auch gut, dass sie vorbei ist. Dieser Stress. Ich habe jetzt mein Leben besser im Griff. Mein Freund Themis hält jetzt hier die Stellung, im früheren Bermuda-Dreieck.
Bermuda-Dreieck?
YILMAZ: Das Anti, das alte X-Cess und das Pimpernel. In dem Dreieck ist jeder für eine Nacht verschwunden. Mittags tauchte man wieder auf. Wie lange gibt es dich hier in der Jahnstraße, Themis?
THEMISTOKLIS: 38 Jahre, 1984.
Isi, hatten Sie im neuen X-Cess an der Sonnenstraße ab 2011 nicht weniger Stress?
YILMAZ: Nein. Wieder ein Anwohner. Er behauptete, die Musik wäre lauter als der Lärm der Sonnenstraße. Ein anderer behauptete, dass eine krebskranke Anwohnerin schneller gestorben ist, weil die ganzen Bars und Kneipen so laut wären.
Ich glaube, Sie vermissen das alte X-Cess schon sehr, oder?
YILMAZ: Klar. Das war meine erste große Liebe. Auch das Neue war schön. Aber das System ist kaputt. Da frage ich mich: Wo muss ich eine Bar oder einen Club eröffnen, um keine Beschwerden zu bekommen? Auf dem Mond? Das System packt dich am Dings, fesselt dich und zieht dich über die Kreissäge.
THEMISTOKLIS: (schenkt Tsipouro nach) So ist es, yamas!
Na yamas. Herr Yilmaz, Isi! Wäre das in Berlin oder Frankfurt alles anders?
YILMAZ: Ja. Ich kenne Hessen ganz gut. Berlin ist ein ganz anderes Thema. Aber München: Die Leute wollen dort leben, wo was los ist. Wenn was los ist, beschweren sie sich. Es gibt Leute, die beschweren sich über den Lärm von Kindergärten.
Sind manche Münchner zu konservativ?
YILMAZ: Es wirkt so. Ich sage: Wer an der Partymeile wohnt, darf sich nicht so schnell beschweren. Wer aufs Land zieht, beschwert sich nicht über Kuhglocken.
"Ob Scholl, Wachtveitl oder sonst wer - im X-Cess waren alle gleich"
Kam schon vor.
YILMAZ: Aber es ist falsch.
THEMISTOKLIS: Es gibt immer böse Menschen. Dabei sorgen Wirte für Lebensqualität in der Stadt.
YILMAZ: Auf Türkisch sagt man: Peitschenkinder. Das sind die Wirte.
Sie meinen Prügelknaben?
YILMAZ: Genau.
THEMISTOKLIS: Isi, du bist schon zwölf Jahre weg von der Jahnstraße?
YILMAZ: Ja. 2010 bin ich raus.
THEMISTOKLIS: Scherefe. Yamas!
Puh. Prost, Isi. Das heißt, das X-Cess hat Sie glücklich und kaputt gemacht?
YILMAZ: Ja, Mann! Mein Gehirn kocht, wenn ich dran denke!
THEMISTOKLIS: (steht auf, hebt das Schnapsglas) Nicht vergessen: Yamas!
YILMAZ: Oh, Themis. Ab morgen bin ich wieder Moslem (Themistoklis kichert).
Woran erinnern Sie sich noch besonders im alten X-Cess?
YILMAZ: Jeder Abend war cool. Ein Grasovka, Busentapete anschauen, und bayerischen Champagner hinterher. Danach hatte ich immer gute Laune. Alle fühlten sich wohl. Ob Scholl, Wachtveitl oder sonst wer. Im X-Cess waren alle gleich und hatten Spaß.
Erfolgsgeheimnis? DJs und Mädels im Naturschutzgebiet
Das Erfolgsgeheimnis?
YILMAZ: DJs und Mädels im Naturschutzgebiet. Und alles laufen lassen. Erfolgsmotto.
Ich habe gehört, Sie sind jetzt Mitarbeiter am Westfriedhof.
YILMAZ: Früher habe ich manche Leute zu Alkoholleichen gemacht. Jetzt gebe ich den Toten die letzte Ehre.

Sie lassen Särge hinunter ins Grab?
YILMAZ: Auch. Mit meinen Kollegen kümmere ich mich um die ganze Anlage. Der Job tut mir gut. Der Friedhof ist für mich wie eine Therapie.
Warum?
YILMAZ: Die ganzen Schicksale, sie bringen einen runter. Der eine hat Glück und wird 100. Drei, vier Doktortitel, Prinz, Prinzessin. Und wer Pech hat, wird null Jahre alt. Das macht einen sehr nachdenklich.
Aber der Friedhof ist doch das genaue Gegenteil vom X-Cess.
YILMAZ: Das Leben ist ein schmaler Pfad. Wenn meine Kollegen und ich einen Sarg herablassen, denke ich mir: links die Hölle, rechts der Himmel. Isi, versuch, in der Mitte zu bleiben! Und außerdem: Ich trage wieder einen Hut, der so aussieht wie meine Generalmütze aus dem X-Cess.
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