Wiesn-Anstich hinter den Kulissen: Was die Großkopferten tuscheln

Vielleicht ist es ja ganz gut, dass Clemens Baumgärtner das nicht sehen muss. Der ehemalige Wiesn-Chef und heutige CSU-OB-Kandidat gilt als Kritiker von zu viel Bio auf der Wiesn, warnte einst, dass eine „Bio-Wiesn für sehr viele Menschen nicht bezahlbar sei“ und hat sich heuer entschieden, dem Anzapfen im Schottenhamel ganz fernzubleiben, um in der Fischer-Vroni eine Konkurrenzveranstaltung aufzuziehen.
Und dann das: Während auf der Empore des Schottenhamelzelts die Großkopferten der münchnerischen und bayerischen Politik auf die erste Maß warten (aus der Bundespolitik lässt sich außer der unvermeidlichen Claudia Roth keiner blicken) rauscht einem der Kopf vor lauter Bio. Auf der Brotzeitbrettl-Karte nämlich stehen Bio-Käse, Bio-Zwiebeln, Bio-Essig-Gurke, Bio-Ei, Bio-Hummus, Bio-Biersenf - und das ist, weil es auch noch um andere Aspekte gehen soll, noch gar nicht alles.
Der Anstich - eine Bio-Party! Heiß ist es heuer, hier droben unterm Zeltdach, sehr heiß! „Dass der Griebenschmalz wegschmilzt habe ich auch noch nie erlebt“, stöhnt Kunstminister Markus Blume (CSU). Drüben am Tisch, an dem gleich OB Dieter Reiter (SPD) und Ministerpräsident Markus Söder (CSU) ihre erste Maß genießen sollen, sitzt bisher nur Einer. Und, hoppala, das ist doch Bayern-Präsident Herbert Hainer. „Ich gehe schon seit über 50 Jahren auf die Wiesn“, erzählt er der AZ. „Aber es ist das allererste Mal, dass ich beim Oberbürgermeister dabei bin.“

Hainer sagt, sonst sei eigentlich das Winzerer-Fähndl sein Lieblingszelt. Er müsse um 14 Uhr noch zum Spiel der Bayern-Frauen. Also nur eine schnelle Maß? „Maximal!“, ruft Hainer und schwärmt noch vom Fest an sich. „Die Wiesn ist auf der einen Seite Tradition, auf der anderen Seite bayerische Gemütlichkeit“, sagt er.
Schwarz-Grün auf der Wiesn! Wo Markus Söder und Claudia Roth einer Meinung sind
Dann wird drunten in der Anzapfbox auch schon angezapft, Markus Söder ruft: „Hier feiern wir eine Auszeit von den Krisen dieser Welt!“ und bildet damit eine ganz ungewohnte schwarz-grüne Koalition. Claudia Roth wird später zur AZ sagen: „In diesen Zeiten, die so furchtbar sind, voller Hass und Hetze, ist die Wiesn ein Sehnsuchtsort, der zeigt, dass das Leben auch schön sein kann.“

Das aber führt zu einer auch ein bisserl ernsthaften politischen Frage: Wie parteipolitisch kann, darf die Wiesn denn sein? Da ist man sich in diesem Jahr durchaus uneins. Während OB Dieter Reiter sich in einem Pro-Olympia-Fass auf dem Gelände fotografieren ließ (AZ berichtete), Sport-Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD) wie Oppositionsführer Manuel Pretzl (CSU) mit einem Button für Spiele in München am Dirndl auf die Wiesn kommt, hat sich der Grünen-Bürgermeister Dominik Krause bewusst dagegen entschieden, „Nein“, sagt Krause zur AZ, „einen solchen Button würde ich hier nicht tragen, die Wiesn soll politikfrei bleiben.“ Reiter selbst sagt auf AZ-Anfrage, er mache viel Werbung für Olympia, einen Button trage er nicht, weil das nicht so seins sei.
Mehr als eine halbe Stunde müssen manche Großkopferten auf ihr Wiesnbier warten
Die Stimmung der Großkopferten trüben solche Unstimmigkeiten freilich nicht, der Hitze trotzt man mit Fächern des Bayerischen Rundfunks - und kühlt sich mit dem guten Wiesn-Bier ab. Als es dann endlich da ist. Denn ganz anders als in den vergangenen Jahren wird an vielen Tischen nicht um kurz nach 12 aufgetragen, manche sitzen gar bis nach halb eins ganz auf dem Trockenen. Von der AZ darauf angesprochen, stürmt Festwirt Christian Schottenhamel aber direkt los. Und dann gibt es auch bald Bier.
Ministerpräsident Markus Söder ist das zweite Mal überhaupt in Lederhose auf der Wiesn. Ob es dieselbe ist wie im vergangenen Jahr? Aber klar, versichert er der AZ. So eine Lederhose sei ja eine „Lebensentscheidung“. Ob es noch Kritik gibt, dass so ein Franke nicht ins oberbayerische Gwand gehört? Nein, er habe ausschließlich positive Rückmeldung bekommen, sagt Söder.
Der Trachtentrend auf der Wiesn, insgesamt ist er eh ungebrochen. In die Ratsboxe traut sich aber auch manch Abweichler. Münchens SPD-Chef Christian Köning etwa trägt Jeans. „Ich hatte noch nie eine Lederhose“, erzählt er der AZ. „Die Münchner Tracht ist Hemd und Jeans. Ich bin in Trudering aufgewachsen, ein paar meiner Freunde hatten die Lederhose vom Opa. Ich nicht und ich werde mir jetzt nicht für 600 Euro eine kaufen, weil ich im Stadtrat sitze.“

Die ehemalige Bürgermeisterin Gertraud Burkert erzählt, die eigentliche Münchner Tracht für Frauen sei doch ein Seidendirndl gewesen. Eine ihrer Lieblingsanekdoten: Als sie 1990 das erste Mal als Bürgermeisterin hinter Christian Ude in die Ratsboxe gekommen sei, sei sie mit ihrem schwarzen Dirndl für eine Bedienung gehalten worden. „Hallo Fräulein, eine Maß bitte“, habe man ihr zugerufen.

Der Grünen-Landtagsabgeordnete Benjamin Adjei hat ebenfalls zur Jeans gegriffen. Kombiniert mit einem Janker sei das für ihn moderne Tracht, sagt er. Besonders niedrig ist die Trachtenquote ausgerechnet bei den Freien Wählern. Michael Piazolo ist in Jeans da, Hubert Aiwanger in Anzughose. Er tauscht sich lange und herzlich mit Rathaus-CSU-Chef Manuel Pretzl aus. Aiwanger betont, wie fleißig und bewundernswert die Wiesn-Bedienungen seien. „Wenn alle so arbeiten würden in Deutschland, dann wären wir schell wieder Wirtschaftsland Nummer eins“, sagt er der AZ.
Reiter zur Stimmung am Vormittag: "Außergewöhnlich"
Alle hier oben schwärmen von der Stimmung am ersten Wiesn-Tag. Offenbar gab es viel weniger Vorglühexzesse, dafür viele fröhliche entspannte Gesichter. OB Dieter Reiter ist wie immer auf der Kutsche gekommen. Er sagt der AZ: „Die Begeisterung auf den Straßen war außergewöhnlich. Es standen noch mehr Leute da als in den vergangenen Jahren.“
Ein Thema ist natürlich auch Heidi Klums Heidifest im Hofbräuhaus, jene Pro-7-Show mit Starts und Sternchen, die bundesweit nun wohl von vielen als der Auftakt der Wiesn wahrgenommen wurde. „Ballaballa!“, sei das, ruft ein prominenter Münchner. Und Stadtrats-CSU-Chef Pretzl sagt der AZ: „Ich halte von Pseudo-Trachtveranstaltungen gar nichts.“ Das Heidifest sei doch „Trittbrettfahrerei auf bayerischer Tradition“, das gefalle ihm überhaupt nicht. Einen ernsthaften Image-Schaden für die Wiesn aber fürchtet Pretzl nicht. „So eine Pseudo-Show hat gegen das hier keine Chance!“, sagt er überzeugt.

Wer das Heidifest beim Anzapfen verteidigt
Natürlich gibt es aber auch Heidifest-Fans. Wie die BR-Moderatorin Uschi Dämmrich von Luttitz. Die Menschen dort seien bunt und fröhlich gewesen, sagt sie der AZ. „Wenn ich nicht da gewesen wäre, hätte ich was verpasst.“ Aber passt das zur bayerischen Tradition? Klar, findet sie. „Unser Grundsatz ist Liberalitas Bavariae.“
Drüben in der Fischer-Vroni hat unterdessen auch der CSU-Kandidat bei seiner Konkurrenzveranstaltung angezapft - ebenfalls mit zwei Schlägen, das Fernduell mit OB Dieter Reiter endet auf dem Papier unentschieden. Das Duell um die Aufmerksamkeit aber hat Reiter haushoch gewonnen. Die prominentere Münchner CSU-Garde hat sich fast ausnahmslos fürs Schottenhamelzelt und gegen Baumgärtner entschieden. Ob das nicht komisch ist? Da winken sie ab. „Baumgärtner braucht das nicht. Er ist selbst prominent genug“, sagt der Landtagsabgeordnete Alexander Dietrich. Na dann: Prost!