Stammstrecken-Streit: Wusste der Freistaat seit November Bescheid?
München - Erst seit Februar ist Christian Bernreiter (CSU) Bayerns Verkehrsminister – und schon in einen Skandal verwickelt: Im Verkehrsausschuss des bayerischen Landtags musste sich Bernreiter am Dienstag wegen der Kostenexplosion beim Projekt der Zweiten Stammstrecke heftiger Angriffe aus den Reihen der Landtagsopposition erwehren.
Wie er es tat, brachte die Abgeordneten nur noch mehr in Rage. Auch der bayerische Bahn-Konzernbevollmächtigte Klaus-Dieter Josel bekam den Zorn zu spüren.
Ende Juni war bekanntgeworden, dass sich die bislang auf 3,85 Milliarden geschätzten Kosten für die Maßnahme auf 7,2 Milliarden Euro nahezu verdoppeln würden. Erste Züge sollen nicht wie vorgesehen 2028, sondern erst neun Jahre später durch die Bahnröhre unter der Innenstadt rollen. Ermittelt wurden diese Daten von einer Monitoring-Gruppe, die vom bayerischen Ministerium 2019 eingesetzt wurde und sich ein "unabhängiges Bild" vom Fortgang der Bauarbeiten machen soll.
War der Freistatt schon lange informiert?
Schon im November 2021 hatte diese Kommission nach Angaben Bernreiters Alarm geschlagen, was die SPD-Abgeordnete Inge Aures erboste: Das Ministerium habe fünf Monate auf den Informationen gesessen, ehe es mit der Wahrheit herausgerückt sei. Schon vor dem November 2021 gab es den "Verdacht", dass der Kostenrahmen nicht zu halten sein werde, räumte ein Ministeriumsvertreter ein.
Verkehrsminister Bernreiter bekräftigte, der Freistaat werde das Projekt trotz Ausuferungen nicht aufgeben. Das Beenden von 200 Verträgen und die Rückbaumaßnahmen würden "in die Richtung" von zwei Milliarden Euro gehen, teilte Josel mit.
Der DB-Konzernbeauftragte für Bayern räumte ein, dass auch die Bahn einen "Controlling-Stab" eingerichtet habe. Neue Zahlen will die Bahn dennoch erst im Frühherbst liefern. Die Verantwortung für die Intransparenz schob Bernreiter der Bahn zu. Diese habe sich lange "nicht auf verbindliche Zahlen festgelegt". Der Bund müsse die Zusicherung, weiter zum Projekt zu stehen, "mit konkreten Vereinbarungen hinterlegen", so der CSU-Minister.
Das alles sorgte für explosive Stimmung im Ausschuss. Der Ausschussvorsitzende Sebastian Körber (FDP) fragte nach der Tätigkeit der Controlling-Gruppe "in den letzten drei Jahren", wozu der Minister "aus dem Stegreif nichts sagen" konnte. "So funktioniert Politik nicht", rief die SPD-Abgeordnete Natascha Kohnen dem Minister entgegen und rügte dessen mangelnde Vorbereitung.
Festhalten an der Zweiten Stammstrecke
Zwei Milliarden Euro als Kosten eines Baustopps, die zu der bereits verbauten Milliarde hinzukämen, erschienen dem Grünen-Politiker Markus Büchler als "geschönt", mit dem Ziel, das abrupte Ende des Milliardenprojekts zu verhindern. Der Grünen-Abgeordnete Martin Runge empfahl, über einen Baustopp nachzudenken, denn auch mit 7,2 Milliarden Euro und einer Inbetriebnahme nicht vor 2037 sei vermutlich "das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht". Die Aussage Bernreiters, der Freistaat werde auf jeden Fall an dem Projekt festhalten, nannte Runge "fatal". Damit signalisiere der Minister, dass der Tunnel gebaut werde, "egal, was es kostet".
Für die SPD bekannte sich der Fraktions- und Landesvorsitzende Florian von Brunn grundsätzlich zu dem Milliardenprojekt: "Die zweite Stammstrecke ist dringend notwendig."
Der Schlagabtausch im Landtagsausschuss dürfte nur der erste Akt in der Angelegenheit gewesen sein. Erst, wenn konkrete Zahlen vorliegen, will der Verkehrsausschuss eine Sondersitzung anberaumen. Der bayerische Ministerrat will sich demnächst in einer Sitzung mit der Kostenexplosion bei der Münchener S-Bahn befassen.