Rätsel um Sonja Engelbrecht: Wurde sie Opfer eines Mehrfachtäters?

München/Kipfenberg - Über Jahrzehnte lebten die Angehörigen von Sonja Engelbrecht im Ungewissen. Zwei Jahrzehnte lang, seit ihrem Verschwinden 1995, hatten sie ein Stück Resthoffnung, dass die damals 19-Jährige vielleicht noch lebt. Doch diese Hoffnung zerschlug sich in den vergangenen drei Jahren.
Spätestens seit dem 30. März 2022 herrscht traurige Gewissheit. An diesem Tag fanden Polizisten in einem steilen Waldgebiet in Grösdorf bei Kipfenberg die sterblichen Überreste der Teenagerin. Auch einige ihrer Ringe lagen dort. Sonja trug sie gerne an mehreren Fingern. Klarheit, dass es wirklich sie ist, die in dem Grösdorfer Felsspalt gefunden wurde, brachte ein DNA-Test.

Der Täter muss sich in der Region gut ausgekannt haben
Ungewöhnlich ist die Fundstelle. Niemand hätte die Tote hier vermutet. Der Ort an sich ist ein Rätsel. Er liegt zwischen zwei Autobahnausfahrten bei Eichstätt, ein Felsspalt an einem Abhang, schwer zugänglich. Die Polizei nahm die Hilfe von Alpinisten in Anspruch, die sich abseilten, um die Gegend gründlich zu durchsuchen. "Große Teile ihres Skeletts wurden an der Oberfläche gefunden", sagte der Münchner Polizeisprecher Werner Kraus.
Wer auch immer Sonja Engelbrecht Mitte der 90er hier zurückgelassen hat, kannte sich wohl gut aus - und wusste, dass sich hierher, in dieses schwierige Gelände, kaum jemand verirrt. 27 Jahre lang lag das tote Mädchen völlig unbemerkt in einem Felsspalt.
Die Schülerin wurde am 11. April 1995 zum letzten Mal am Stiglmaierplatz gesehen, von ihrem Bekannten Robert. Sie bekam von ihm eine Telefonkarte, ging in eine Telefonzelle, sagte er damals aus, um bei ihrer Schwester anzurufen - und war danach verschwunden. Wen rief sie an? Wohin ging sie danach? In wessen Auto stieg sie, freiwillig oder unfreiwillig?
Fall Sonja Engelbrecht: Es wird weiter fieberhaft ermittelt
107 Kilometer beträgt die Strecke zwischen dem Stiglmaierplatz und dem Kipfenberger Wald bei Eichstätt, dem Staatswald Kälbertal. Die Ermittler versuchen nun, diese zeitliche und räumliche Lücke zu schließen. Wann und wie ist die junge Frau gestorben? An dem Abend, ab dem sie vermisst wurde? Vielleicht Tage, Monate oder gar Jahre später? Heutige Analysemethoden können solche Fragen oft exakt beantworten.
Auch die Frage nach dem Täter? Hier wird es wohl so sein, dass die Polizei in Zusammenarbeit mit der Münchner Rechtsmedizin wichtige Erkenntnisse gewinnen und in den kommenden Monaten vorzeigen wird. Was genau die Beamten in dem Waldstück neben den Skelettknochen und den Ringen fanden, sagen sie bisher nicht. "Täterwissen", heißt es auf Anfrage stets ganz knapp.
Es wird fieberhaft ermittelt, Anhaltspunkte muss es geben. Dafür spricht auch die Bestätigung von Polizeisprecher Werner Kraus, dass sich "Sonja Engelbrechts sterbliche Überreste auch weiterhin in der Münchner Rechtsmedizin befinden". Momentan hüllen sich die Behörden noch in Schweigen, die Münchner Beamten, die Staatsanwaltschaft - oder auch das Polizeipräsidium Oberbayern Nord in Ingolstadt, das nicht nur wegen des Fundorts von Sonja Engelbrecht nahe Eichstätt eine Rolle spielt.
Im gleichen Waldgebiet wurden im Mai 2020 zwei weitere Skelette entdeckt
Denn ein weiterer Leichenfund in Kipfenberg - im gleichen Waldgebiet - lässt viele Spekulationen zu. In Sichtweite der Anhöhe, wo ein Waldarbeiter zunächst Ende 2021 einen Oberschenkelknochen von Sonja Engelbrecht entdeckt hatte, stieß im Mai 2020 ein Spaziergänger auf die Skelette eines vermissten Paares. Die Polizei konnte sie den Ingolstädtern Eugen S. (23) und Sabine P. (21) zuordnen. Ein DNA-Test brachte im Mai 2021 endgültige Gewissheit.
Die jungen Leute wurden seit dem 20. September 2002 vermisst, seit dem Abend, als Sabine P. zu ihrem Geburtstag mit ihrem Freund Eugen S. zum Essen gehen wollte. Seither waren sie verschollen. Auch das Paar wurde also lange Jahre nicht entdeckt. Bei ihnen wusste der mutmaßliche Täter offenbar ebenfalls, dass das hier bei Grösdorf eine ziemlich ruhige Gegend ist. Ein naturbelassenes Waldstück mit viel Unterholz und umgefallenen Bäumen.

18 Jahre lang wurden Eugen S. und Sabine P. vermisst. Seit 2020 weiß man, dass sie jemand in dem gleichen Waldviertel bei Grösdorf verscharrt hatte, wo auch Sonja Engelbrecht in einem Felsspalt lag. Laut ersten Ergebnissen der Münchner Rechtsmedizin wurde das Paar mit massiver Gewalt getötet. Zügig ermittelte die Polizei Oberbayern Nord damals vier Verdächtige, die im Mai 2021 in Untersuchungshaft landeten. Die Männer waren da zwischen 39 und 55 Jahre alt.
Es stellt sich jetzt die Frage: Wie viel Zufall verträgt die Realität?
Der Fall schien sich nach so vielen Jahren schnell zu lösen. Dann der Rückschlag: Im Herbst 2021 mussten alle vier entlassen werden: kein dringender Tatverdacht, so die zuständige Staatsanwaltschaft. Verdacht bestehe grundsätzlich weiterhin. Seither wird weiterermittelt. Doch in welche Richtung? Eine Einschätzung hierzu gibt die Polizei Oberbayern Nord derzeit nicht ab, die Münchner Polizei ebenfalls nicht.
Falls sich der Mordverdacht gegen eine der vier Personen, die schon einmal in Untersuchungshaft saßen, doch erhärten sollte: Könnte das unter Umständen auch der Mörder von Sonja Engelbrecht sein? Oder anders gefragt, wie viel Zufall verträgt die Realität? Können sich zwei verschiedene Mörder im Abstand von etwa sieben Jahren ein und dasselbe Waldgebiet ausgesucht haben, um Tote zu verstecken? "Das ist ein ganz, ganz merkwürdiger Zufall", kommentierte im Januar 2021 die Ingolstädter Oberstaatsanwältin Andrea Grape.
Waren Eugen S. und Sabine P. im Drogenmilieu bekannt?
Es gibt aber auch Fakten, die gegen einen Mehrfachmörder sprechen. So wird Eugen S. und Sabine P. nachgesagt, dass sie im Drogenmilieu bekannt gewesen sind. Drogenschulden können laut "Donaukurier" der Grund gewesen sein, weshalb Eugen S. und Sabine P. umgebracht wurden. Sogar Johanna Z., die Mutter von Sabine P., äußerte einen Verdacht, der in diese Richtung geht, in einem Gespräch mit dem "Donaukurier" im Mai 2019. Damals hatte Johanna Z. noch eine kleine Resthoffnung, dass sie ihre Tochter irgendwann lebendig wiedersehen könnte.
Eine Verbindung herzustellen zwischen dem Drogenmilieu in Ingolstadt und dem Stiglmaierplatz in München, von wo Sonja Engelbrecht verschwand, dürfte viele schlüssige Details und Zusammenhänge benötigen. Denn von Engelbrecht ist nicht bekannt, dass sie in den 90ern mit Drogen in Kontakt gekommen wäre.
Doch die hohe Gewaltbereitschaft der Ingolstädter Drogenszene, in der sich Eugen S. und Sabine P. wohl bewegten, macht stutzig. Offenbar wurde der Ingolstädter Drogenmarkt damals von Russlanddeutschen kontrolliert. Möglicherweise hatte Eugen P. Drogenschulden. Laut "Donaukurier" kam es Anfang der 2000er schon einmal vor, dass Dealer säumige Schuldner im Winter über Nacht in einer Garage angekettet haben, um das Geld einzutreiben.
Eugen S. und Sabine P. wurden in einem Friedhofsgrab gesucht
Die Polizei vermutete eine Zeit lang sogar, dass die Leichen des Ingolstädter Paares in ausgehobenen Gräbern verscharrt worden sein könnten, bevor eine offiziell geplante Beerdigung stattfand. Den Tipp gab wohl damals ein Informant aus dem Drogenmilieu. Ein Grab wurde im Frühjahr 2009 deshalb geöffnet, weil das Ingolstädter Paar darin vermutet wurde. Es sei eine Methode, die im Schwerkriminellen-Milieu Russlands nicht unüblich sei, so der Informant.
Nicht auszuschließen, natürlich pure Theorie: Ein paar Jahre zuvor, 1995, könnten Mitglieder dieser grobschlächtigen Drogenszene schon aktiv gewesen sein. Traf Sonja Engelbrecht in der Nacht ihres Verschwindens in München auf einen von ihnen, nachdem sie spät nachts alleine am Stiglmaierplatz zurückblieb? Von Ingolstadt nach München ist es schließlich keine Weltreise.
Alle warten jetzt gespannt auf Antworten rund um das Todesrätsel von Sonja Engelbrecht, vor allem ihre Angehörigen. Antworten, die sich vielleicht in den kommenden Wochen und Monaten geben lassen. Das alles könnte aber auch ziemlich ernüchternd enden, wenn weder der mutmaßliche Mörder von Sonja Engelbrecht noch der oder die Mörder des Ingolstädter Paares ermittelt werden können. Auch das ist leider möglich.