Hans-Jochen Vogel: Schlacht im Hofbräuhaus
München - Wiederholt warnte Hans-Jochen Vogel seinen Stadtrat, dass man mit jeder Milliarde für den Verkehrsausbau "unsere Stadt dem Tode näher bringt".
Trotzdem wurden in der Schlussphase seiner Amtszeit, in den glorreichen Vorolympia-Jahren, immer neue, gewaltige Investitionen beschlossen, wurden Fehlplanungen größten Ausmaßes bestätigt, wurden Kostensteigerungen – insbesondere beim unterirdischen Stachus, bei S- und U-Bahn – zu Hunderten von Millionen bekannt, die nicht nur die Steuerzahler in München und Bayern trafen.
Hand in Hand mit der finanziellen Aushöhlung setzte sich der Raubbau an der Stadt-Substanz rapide fort. So auch an den Rändern des Englischen Gartens. "Eine Stadt wird ausverkauft", musste ich meinen außerbayerischen Zeitungen an Hand etlicher Beispiele berichten.
Hans-Jochen Vogel: "Das Auto mordet unsere Städte"
Der viel Beschäftigte, heftig Umstrittene wollte zwar unter keinen Umständen resignieren, noch nicht, doch die Rezepte des Doktor Vogels – wie er gern angesprochen werden wollte – klangen jetzt recht abstrakt: Eine Einschränkung des immer stärker werdenden Zuzugs, worauf Münchens Misere zu einem großen Teil beruhte, sei administrativ nicht möglich.
Die rund 30.000 Zuwanderer pro Jahr sollten deshalb möglichst auf neue Kultur- und Wirtschaftszentren in der Region verteilt werden. Innerhalb der Kernstadt müssten halt gewisse "Mindestausstattungen" geschaffen werden, ohne die Stadt dem Verkehr zu opfern.

Wenige Stunden nach dieser Erklärung erlebte der gesamte Verkehr in der Innenstadt wieder einmal einen totalen Zusammenbruch. Den Kampf gegen die Überflutung durch Automobile gab Vogel nicht auf. Das ging so weit, dass er 1971 für den "Stern" eine Serie schrieb, dessen erste Folge die motorbesessenen Landsleute geradezu anschrie: "Das Auto mordet unsere Städte".
Es war der ehrenwerte, doch bis heute noch wenig aussichtsreiche Versuch, die bedingungslose Liebe zur Technik hierzulande einzudämmen. Vogel selbst fuhr lieber Straßenbahn als mit dem Dienstwagen. Links von Vogel erstarkte indes die Bewegung, die eine Lösung der Verkehrsprobleme nur noch in einer radikalen Änderung der Gesellschaftsstruktur sah und vorerst utopische Gegenmodelle einer neuen Stadtgemeinschaft entwickelte.
Münchner SPD-Parteitag 1971: Vogels leidenschaftlicher Kampf
Der Streit trieb einer radikalen Entscheidung zu. Nie werde ich die Münchner SPD-Parteitage jener Jahre vergessen. Es begann am 27. Februar 1971. Elf Tage zuvor hatte uns der Oberbürgermeister im Presseclub mit der Ankündigung seines Rücktritts überrascht.
Er begründete den rigorosen, folgenschweren Schritt mit einer gewissen Stimmungsmache und radikalen Tendenzen im nach links geschwenkten Unterbezirksvorstand, fand aber selbst hoch oben in der Bundes-SPD nur wenig Verständnis. Und schon gar nicht auf dem mit Hochspannung erwarteten Parteitag im Hofbräuhaus. Zusammen mit gut 100 Kollegen erlebte ich einen Aufstand von Möchtegern-Revolutionären und einen leidenschaftlichen Kämpfer, wie er in der deutschen Demokratie selten ist. Es ging um einen Misstrauensantrag gegen den linken Vorstand des Unterbezirks München.
Hier ein Auszug meiner an etliche Redaktionen telefonierten Reportage: Krebsrot war sein Gesicht angelaufen, die Halsadern quollen hervor, Schweißperlen tropften auf seinen dunkelblauen Anzug. Man reichte ihm ein Papiertaschentuch. Er knüllte es, knallte es zu Boden. Die Heftigkeit seiner Gebärden, verstärkt durch einen Wackelkontakt im Lautsprecher, nahm sich aus wie Theaterdonner.
Hans-Jochen Vogel: "Die Stunde des rücksichtslosen Engagements"
Niemals zuvor habe ich Hans-Jochen Vogel, der immer nur Würde und Sachlichkeit ausstrahlte, derart erregt gesehen. "Faschistenschwein", schrie eine junge Genossin. Bayerns populärster Politiker war angetreten, um die Macht in München und die "Konsolidierung" der deutschen Sozialdemokratie zu verteidigen. Als 24. Redner kämpfte er mit höchstem geistigen und körperlichen Einsatz, wie sonst nur sein Landsmann Franz Josef Strauß.
Nicht um Personen und Emotionen werde dieser Kampf geführt, so trommelte Vogel auf die 214 Delegierten ein, sondern: "Dies ist die Stunde der Politik und des rücksichtslosen Engagements." Nichts blieb den fünf Männern und der jungen Frau am Vorstandstisch erspart.

Aus der großen, linken, demokratischen Volkspartei wollten sie eine Kaderpartei linkssozialistischen Typs machen, mussten sie hören. Heuchler seien sie, die zwar "das gewisse Ansehen des Doktor Vogel" bei Wahlen ausnutzten, ihn aber dann mit allen Konsequenzen bekämpften. Der Unterbezirksvorsitzende Helmut Meyer schüttelte heftig den Kopf, als Vogel fortfuhr: "Dieser Trend lässt uns in letzter Perspektive zur Sekte werden und nimmt uns die Macht."
Ja, schlimmer noch: die Folge sei ein allgemeiner Rechtsruck in Deutschland. Hatte Vorstandsmitglied Rudi Schöfberger zuvor den "alten Stammvater" Bebel zitiert – ein Politiker, der von seinen Gegnern gelobt werde, solle in sich gehen – , so hielt Vogel seinem persönlichen Juso-Gegner nun entgegen: "Auf diese billige Ebene folge ich nicht. Ich zitiere ja auch nicht aus dem 'Neuen Deutschland'."
Blitzschnell zog er einen Ausschnitt des SED-Parteiorgans aus der Tasche und ließ ihn wieder verschwinden. Die Stimmungswaage neigte sich, als der Redner die "Stimme des Volkes" und zahlreicher Persönlichkeiten und Gremien der SPD zitierte, die seinem "Signal" Beifall gezollt hätten. Eine dicke Dokumentation mit vorwiegend positiven Bekundungen hatten seine Getreuen zuvor auf alle Tische gelegt.
Zwischenrufe: "Es lebe der fröhliche Sozialismus – und der Gruppensex"
Diese Reaktionen als "Massenhysterie" abzutun, kommentiert Vogel, sei nur wieder ein Stück jener "elitären Arroganz, die den Kontakt zu den Massen verloren hat“. Der Mann, der immer wieder das Wort von einem "Münchner Modell" wie eine Vision einfließen ließ, sprach von Bedürfnissen seiner Bürger: "Diese Menschen wollen keinen blindwütigen, humorlosen Fanatismus, sondern auch ein wenig Freude am Geschaffenen."
Da riefen einige Jungsozialisten, die sich hinter die Pressetische gedrängt und die Rede vom "Gottvater" (so Schöfberger) mit sarkastischen Rufen begleitet hatten: "Es lebe der fröhliche Sozialismus – und der Gruppensex."
Der Schluss der Vogel-Rede ging schon fast im Tumult der widerstreitenden Gruppen unter: "Nie zuvor haben Delegierte eine solche Entscheidung für die ganze Partei getroffen wie heute." Der Saal mit den verwitterten Fahnen an den Wänden kochte.
Hans-Jochen Vogel: Kämpfer und Versöhner
Erschöpft stieg Vogel von der Bühne, stellte sich unten vor die goldene Brüstung und dankte mit einem knappen Nicken des Kopfes – wie ein Staatsmann, der eine selbstverständliche Huldigung entgegennimmt. Hinter der Bühne ging der Erschöpfte unauffällig auf seinen Gegner Jürgen Böddrich zu, streckte ihm die Hand entgegen: "Ich habe aus deiner Rede gemerkt, dass es doch noch Annäherungspunkte gibt."
Ein Kämpfer und Versöhner. Es war ein einsamer Kampf, alle schienen gegen diesen Mann verschworen. Wäre da nicht ein Donnerwetter des bayerischen Löwen Wilhelm Hoegner gewesen.
Nach jahrelangem Schweigen trat der 93-Jährige, langjährige Regierungs- und Parteichef – seine Enkel waren Jusos – noch einmal in die Arena: "Ich kann nicht verstehen, dass es eine Gruppe geben soll, die mit revolutionären Phrasen unsere Partei in ein Wolkenkuckucksheim bringen will."
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