Ermordete Behinderte in München: Opfer zweiter Klasse

Die Nazis brachten Tausende behinderte Kinder um – bis heute werden diese nicht offiziell als NS-Opfer anerkannt. Angesichts der jüngsten Attacke von Björn Höcke warnt Alt-OB Christian Ude in München vor einem "Rückfall in die Barbarei".
von  Tobias Lill
Insgesamt töteten die Nationalsozialisten nach Schätzungen 200.000 bis 300.000 Menschen mit Behinderung und psychisch Erkrankte, weil sie diese als "unwertes Leben" erachteten. Auch die Frau auf dem Foto wurde 1945 von NS-Schergen ermordet.
Insgesamt töteten die Nationalsozialisten nach Schätzungen 200.000 bis 300.000 Menschen mit Behinderung und psychisch Erkrankte, weil sie diese als "unwertes Leben" erachteten. Auch die Frau auf dem Foto wurde 1945 von NS-Schergen ermordet. © picture alliance / dpa

München - Der Brief, der im Frühjahr 1939 in der Reichskanzlei des Führers einging, klang, als schriebe da jemand über sein unheilbar krankes Haustier. Doch der sächsische Vater forderte in dem Schreiben an Adolf Hitler nicht weniger, als sein behindertes Kind "einschläfern zu lassen".

Dem Reichskanzler kam die Bitte sehr gelegen. Für die Nationalsozialisten waren Menschen mit Behinderung lebensunwerte "Mitesser", die dem Volk auf der Tasche lagen.

Tausende behinderte Kinder ermordert: Die Nazis nannten es zynisch "Sterbehilfe"

Der Diktator ermächtigte zu diesem Anlass den Leiter der Führerkanzlei, Philipp Bouhler, und seinen Leibarzt, Karl Brandt, das Kind zu töten und in ähnlichen Fällen genauso zu verfahren.

Dem Tod des Kindes sollten viele Morde folgen – erst brachte das Regime Babys und Kleinkinder um, am Ende fielen dem im Herbst 1939 begonnenen Massenmord Hunderttausende Behinderte jeder Altersgruppe zum Opfer. Die Nazis nannten diese bis heute von weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit ignorierte Barbarei zynisch "Euthanasie", was auf Altgriechisch "Sterbehilfe" heißt.

Im NS-Dokumentationszentrum in München ist eine Ausstellung zum sogenannten "Euthanasie"-Programm der Nationalsozialisten zu sehen.
Im NS-Dokumentationszentrum in München ist eine Ausstellung zum sogenannten "Euthanasie"-Programm der Nationalsozialisten zu sehen. © picture alliance / dpa | Sven Hoppe

Auch der Süden von Bayern war von den Morden betroffen

Im katholischen Bayern gab es zwar in vielen kirchlichen Kliniken und Heimen Unmut über das Töten. Doch auch hier mordeten die Nazis weitgehend ungestört – allein aus dem Raum Landshut wurden 118 Behinderte umgebracht.

Die "Kindereuthanasie" begann mit einem streng vertraulichen Runderlass des Reichsinnenministeriums am 18. August 1939. Die Landesregierungen wurden darin angewiesen, dass Hebammen und Ärzte missgebildete und behinderte Neugeborene den Amtsärzten melden müssten, die wiederum die Meldungen zu prüfen und an einen sogenannten Reichsausschuss weiterzuleiten hätten. Dieser hatte seinen Sitz in Berlin, Tiergarten 4. Deshalb wurden die "Euthanasie"-Tötungen unter dem Decknamen "T4" geplant.

Ermordung behinderter Kinder: Adolf Hitler erteilte den Ländern die Ermächtigung zum Töten

Im Oktober 1939 ermächtigte Hitler die Länder in einem Schreiben, die Befugnisse von Ärzten so zu erweitern, dass "nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann".

Nach und nach entstanden über 30 Kinderfachabteilungen an Heil- und Pflegeanstalten, in denen bis 1945 mehrere Tausend Kinder und Jugendliche von willfährigen Schergen des NS-Regimes getötet wurden.

Ein Plus-Zeichen brachte den Tod für die Kinder

Es dauerte nicht lange, bis die Kliniken aufgefordert wurden, auch erwachsene Behinderte zu melden. Im Auftrag des Regimes erfassten Ärzte und Schwestern in Fragebögen etwa die Krankengeschichte, die Arbeitsfähigkeit und die Heilungsaussichten des Patienten. Ein Gutachter in Berlin prüfte die Bögen. Diejenigen, die ermordet werden sollten, erhielten ein "+"-Zeichen auf dem Bogen eingetragen. Sie wurden dann in als Krankenanstalten deklarierte Tötungseinrichtungen verlegt.

Dort wurden Kinder häufig per Giftspritze ermordet, die Erwachsenen in der Regel vergast. Die Verantwortlichen kannten keine Skrupel. Bei einem Versuch mit Menschen im Dezember 1939 oder Januar 1940 in Brandenburg verfolgten diverse Nazi-Funktionäre und Ärzte durch ein Guckloch in der Tür, wie die Opfer qualvoll erstickten. Das für die Morde notwendige Kohlenmonoxidgas lieferte die IG Farben, aus der nach dem Krieg unter anderem der Weltkonzern BASF hervorging.

Ermordung von Behinderten: Testlauf für die Judenvernichtung

Manchen Historikern gilt die Euthanasie als Testlauf für den millionenfachen Judenmord. Innerhalb eines Jahres wurden im Rahmen des T4-Programms mindestens 70.000 Menschen mit Beeinträchtigung umgebracht – Kinder mit Down Syndrom oder Autisten waren unter den Opfern, aber auch traumatisierte Soldaten. Die Nazis äscherten die Leichen ein, um Obduktionen zu verhindern.

Das von den Nazis gewünschte Geheimhalten der Morde funktionierte aber nicht. So sprachen die ständigen Fahrten von besetzten Bussen mit kaum einsehbaren Fenstern und der Rauch der Krematorien über den Anstalten für sich. Viele Menschen, die davon erfuhren, waren empört. Im August 1941 wurde das T4-Programm nach zunehmenden Protesten offiziell gestoppt. Kurz zuvor hatte ein Bischof an der Kanzel über das Verschwinden von immer mehr Deutschen gesprochen.

"Offenbarungseid": Ermordete Menschen mit Behinderung nicht als NS-Verfolgte anerkannt

Die Morde hörten jedoch nicht gänzlich auf. In einigen deutschen Anstalten starben Patienten an absichtlich herbeigeführtem Hunger und bewusster Überdosierung von Medikamenten. Vor allem jedoch brachte die SS in den Konzentrationslagern weiter psychisch Kranke und Schwerbehinderte um. Insgesamt töteten die Nazis nach Schätzungen 200.000 bis 300.000 Behinderte und psychisch Erkrankte in Deutschland und den besetzten Gebieten.

Doch die ermordeten Menschen mit Beeinträchtigung werden bislang nicht förmlich als NS-Verfolgte anerkannt. Einen "Offenbarungseid" nennt dies Corina Rüffer, behindertenpolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, in der AZ. Sie setzt sich für eine offizielle Anerkennung ein, die bei anderen Opfergruppen längst erfolgt ist. Auch Ulla Schmidt (SPD), Vorsitzende der Lebenshilfe, sagt auf Anfrage, der Bundestag solle die im Rahmen der T4-Aktion Ermordeten endlich als Verfolgte des NS-Regimes anerkennen. Sie spricht von "Opfern zweiter Klasse".

"Das sind Leute, die mit Euthanasie mehr am Hut haben als mit Inklusion", sagt Alt-OB Christian Ude (SPD) über AfD-Politiker.
"Das sind Leute, die mit Euthanasie mehr am Hut haben als mit Inklusion", sagt Alt-OB Christian Ude (SPD) über AfD-Politiker. © picture alliance/dpa

Menschen mit Beeinträchtigung werden heute zwar nicht mehr umgebracht – von echter Teilhabe sind sie jedoch weit entfernt. Am 12. August demonstrierten mehr als 100 Behinderte in München.

Noch vor ein paar Jahren hätte wohl niemand gedacht, "dass sich Deutschland nochmals in eine so widerliche und brandgefährliche Richtung entwickelt", warnte die Vorsitzende des Bayerischen Behindertenverbands Patricia Koller. Münchens ehemaliger Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) sagte über Teile der AfD: "Das sind Leute, die mit Euthanasie mehr am Hut haben als mit Inklusion."

Münchens Ex-OB Christian Ude warnt vor der AfD: "Rückfall in die Barbarei"

Der Grund für das Entsetzen: Der AfD-Politiker Björn Höcke hat sich in einem Interview Anfang August dagegen ausgesprochen, dass Kinder mit Beeinträchtigung Regelschulen besuchen dürfen. Er wolle den Bildungsbereich von der Inklusion "befreien". Und weiter: "Gesunde Gesellschaften haben gesunde Schulen", so der Rechtsextreme in klassischem NS-Sprech.

Ude warf Höcke vor, derlei bereite einen "Rückfall in die Barbarei" vor. Auch Rüffer findet deutliche Worte: "Das ist ein perfides Spiel. Höcke erklärt Menschen für krank und sagt, wir müssen sie loswerden. Das ist faschistoid." Letztlich betont die AfD zwar gerne, dass jeder seinen Lebensunterhalt selbst verdienen soll. Kindern mit Behinderung soll dieser Weg jedoch verbaut werden. Denn die von der AfD gefeierten Förderschulen verlassen drei von vier Schüler ohne jeden Abschluss.

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