"Bin nicht der Fanclub meiner Partei": Grünen-Politikerin Jamila Schäfer stellt sich in München ihren Wählern

Einmal im Monat bietet die Grünen-Abgeordnete Jamila Schäfer eine Sprechstunde für ihren Wahlkreis an. Bloß ein Fanclub ihrer Partei will sie dort nicht sein – sondern lieber ehrlich.
Autorenprofilbild Christina Hertel
Christina Hertel
|
X
Sie haben den Artikel der Merkliste hinzugefügt.
zur Merkliste
Merken
1  Kommentar
lädt ... nicht eingeloggt
Teilen  AZ bei Google News
Die Waffen, die Deutschland bisher an die Ukraine geliefert hat, reichen nicht. Davon ist Daria Onyshchenko (l.) überzeugt. Die Bundestagsabgeordnete Jamila Schäfer ist auch Mitglied im Auswärtigen Ausschuss im Bundestag.
Die Waffen, die Deutschland bisher an die Ukraine geliefert hat, reichen nicht. Davon ist Daria Onyshchenko (l.) überzeugt. Die Bundestagsabgeordnete Jamila Schäfer ist auch Mitglied im Auswärtigen Ausschuss im Bundestag. © Bernd Wackerbauer

München - Eine Viertelstunde spricht der Herr nun schon. Über das Heizungsgesetz. Darüber, wie schlecht die Grünen es kommunizierten. Darüber, wie wichtig es ist, dass sich Deutschland verteidigen kann. Wie wichtig es ist, die Ukraine zu unterstützen. Wie wichtig Einwanderung ist, weil so viele Handwerker, so viele Pflegekräfte fehlen. Und wie wichtig es gleichzeitig auch ist, dass die Zahlen der Geflüchteten nicht endlos steigen.

Der Herr, der so vieles weiß, ist kein Politiker. Er will anonym bleiben, auch sein Alter verrät er nicht. Er ist an diesem Abend um kurz nach 17 Uhr durch die Tür ins Wahlkreisbüro der Grünen an der Implerstraße gekommen, hat sich in den gelben Polsterstuhl gesetzt und zu sprechen begonnen. Denn heute Abend ist Bürgersprechstunde.

"Ein Problem für die Demokratie": Jamila Schäfer will in München Vorurteile abbauen

Ihm gegenüber sitzt die Grünen-Bundestagsabgeordnete Jamila Schäfer. Schon vor der Wahl versuchte die 30-Jährige, mit den Bürgern Kontakt zu halten. Auf ihren Plakaten warb sie damit, dass die Menschen sie anrufen sollten. Das ging auf: Sie wurde im Wahlkreis München Süd 2021 direkt in den Bundestag gewählt, das ist in ganz Bayern in ihrer Partei noch nie jemandem gelungen.

Vom Feiern ist Jamila Schäfer am nächsten Tag noch müde. Doch sie hat es sich verdient: Als einzige Grüne holte sie in München das Direktmandat.
Vom Feiern ist Jamila Schäfer am nächsten Tag noch müde. Doch sie hat es sich verdient: Als einzige Grüne holte sie in München das Direktmandat. © Grüne Bayern

Auch nach der Wahl bietet Jamila Schäfer jeden Monat Sprechstunden an, telefonisch oder in ihrem Wahlkreisbüro, so wie an diesem Montagabend. Sie erhofft sich davon, ein Gefühl dafür zu bekommen, was die Menschen umtreibt. "Denn das Bild der Abgehobenheit von Bundespolitik ist verbreitet und auch ein Problem für die Demokratie", findet sie.

Während der Herr spricht, macht sie sich Notizen in ihrem Smartphone. Nach gut einer Viertelstunde fragt sie: "Soll ich mal auf die Punkte eingehen?" "Letzter Satz", antwortet der Herr: "Als Kanzler würde ich mir Robert Habeck wünschen." "Warum?", fragt Jamila Schäfer zurück. "Weil er pragmatisch ist und verdammt gut kommunizieren kann”, antwortet er.

Jamila Schäfer bedankt sich. Jetzt ist sie dran. "Ich gebe Ihnen recht. Die Kommunikation beim Heizungsgesetz ist nicht gut gelaufen." Widersprechen will sie beim Thema Asyl, viel Zeit ist aber gar nicht mehr, der nächste Herr ist gerade schon zur Tür hereingekommen.

Wie sollte man die Menschen an der Grenze aufhalten? Mit Gewalt?

Doch der muss kurz warten. Jamila Schäfer will an etwas erinnern: Das Grundrecht auf Asyl wurde eingeführt, weil kein Land während des Nazi-Regimes die verfolgten Juden aufnehmen wollte. Bevor man dieses Grundrecht einschränkt, sollten aus ihrer Sicht erst andere Maßnahmen greifen. Eine Bekämpfung der Fluchtursachen zum Beispiel. Und überhaupt, wie sollte man die Menschen abhalten nach Deutschland zu kommen? Mit Gewalt? Überzeugt ist der Herr nicht. Er hat das Gefühl, die Politik hat das Ganze nicht zu Ende gedacht. Was passiert, wenn immer mehr Menschen kommen?

Lesen Sie auch

Lesen Sie auch

Bei den Grünen will sich die ukrainische Gemeinde bedanken

An diesem Abend kommen auch zwei Vertreter der ukrainischen Gemeinde: Daria Onyshchenko, eine Filmregisseurin, die seit Anfang des Krieges Demos organisiert, und noch ein Mann, der lieber nicht mit seinem Namen in der Zeitung stehen möchte. "Wir machen uns gerade große Sorgen", sagt er. Nach der russischen Präsidentschaftswahl werde Russland das Baltikum angreifen – und womöglich noch weiter gehen.

So schätzt er die Lage ein. Er zeigt Schäfer Nachrichten, die in Russland in Chatgruppen verbreitet werden. "Dort wird das Bild gezeichnet, dass Deutschland nur darauf wartet, von Russland befreit zu werden", sagt er. "Putin hat ja auch immer gesagt, er will die alte Sowjetunion wieder herstellen”, sagt Schäfer. "Und da gehört Ostdeutschland dazu", sagt der Herr. Schäfer ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses. "Bei den Grünen wollen wir uns bedanken", sagt Onyshchenko. Weil sich die Grünen immer für Waffenlieferungen an die Ukraine eingesetzt haben. Doch sie ist sich sicher: Was Deutschland bisher geliefert hat, reicht nicht. Onyshchenko legt einen Schokonikolaus und einen ukrainischen Anstecker auf den Tisch, als Geschenk.

Der nächste Herr ist schon vor einer ganzen Weile reingekommen. Die Wartezeit hat er genutzt, um seine Haare frisch zu einem Pferdeschwanz zusammen zu binden. "Bist du gut hergekommen?", ist die erste Frage, die er Jamila Schäfer stellt. "Ich bin zehn Minuten, bevor es losging, zur Türe reingekommen. Aber ich hab's mir schlimmer vorgestellt mit dem Schneechaos. Wie geht's dir?” "Ich habe mich gefragt, ob's auch noch Lichtblicke in unserer Regierung gibt." "Also soll ich mal den Motivator spielen? Was ich gut finde, ist dass der Ausbau der Erneuerbaren und die Wärmewende angestoßen wurden. Es ist klar: Wir werden aus den fossilen Energien aussteigen", sagt Schäfer.

Wollt ihr überhaupt noch zusammen regieren?

Aber da gibt es auch viel, was sie nicht so gut findet. Dass die FDP so sehr auf die Bürgergeld-Empfänger drauf haut, wie sie sagt. "Da würde ich lieber die letzten Steuererleichterungen für Spitzenverdiener wieder zurücknehmen." "Wollt ihr überhaupt noch zusammen weiter regieren?" fragt er. "Ja. Ich denke, dass eine Lösung möglich ist, wenn alle sich für eine pragmatische Herangehensweise entscheiden. Was am Ende passiert, kann ich dir nicht sagen", antwortet Schäfer. Sie ist auch Mitglied des Haushaltsausschusses – und einen Haushalt wird der Bundestag dieses Jahr wohl nicht mehr beschließen. SPD, Grüne und FDP werden sich nicht einig, wo sie einsparen wollen.

"Ich versuche immer, ehrlich zu sein", sagt Schäfer hinterher, nachdem sich der Mann verabschiedet hat. "Und man muss ja nicht so tun, als sei man der Fanclub aller Meinungen, die die eigene Partei je vertreten hat." Inzwischen ist kurz nach 19 Uhr. Ihre Pressesprecherin hat ihr eine türkische Pizza mitgebracht. Gleich beginnt die nächste Videokonferenz.

Lädt
Anmelden oder registrieren

Zum Login
Zu meinen Themen hinzufügen

Hinzufügen
Sie haben bereits von 15 Themen gewählt

Bearbeiten
Sie verfolgen dieses Thema bereits

Entfernen
Um "Meine AZ" nutzen zu können, müssen Sie der Datenspeicherung zustimmen.

Zustimmen
 
1 Kommentar
Bitte beachten Sie, dass die Kommentarfunktion unserer Artikel nur 72 Stunden nach Veröffentlichung zur Verfügung steht.
  • meingottwalter am 23.12.2023 07:49 Uhr / Bewertung:

    SIe versucht immer ehrlich zu sein. Versucht. Das sagt dann schon alles.

merken
Nicht mehr merken
X

Sie haben den Inhalt der Merkliste hinzugefügt.