Aiwanger könnte aus der Flugblatt-Affäre womöglich noch Kapital schlagen

Markus Söder hat es nicht gewagt, seinen Vize Hubert Aiwanger den Stuhl vor die Tür zu stellen. Das ist berechtigt, weil die bisher gegen Aiwanger aufgehäuften Indizien in Zusammenhang mit einem antisemitischen Hetzblatt eben nur Indizien, aber keine Beweise sind. Und das ist verständlich, weil Söder in der Zwickmühle sitzt.
Sechs Wochen vor der Landtagswahl den Bruch der Koalition mit den Freien Wählern zu riskieren, schien sogar ihm, der Risiken nicht scheut, zu riskant. Um keinen Preis möchte er mit einer der Berliner Ampelparteien die neue Staatsregierung bilden.
Flugblatt-Affäre: Freie Wähler ohne Aiwanger nicht mehr relevant
Wäre ein x-beliebiger Minister für Gedöns und Sonstiges so attackiert worden wie Aiwanger, hätte Söder wohl kurzen Prozess gemacht. So aber hat er es mit einer "Kultfigur" zu tun, auf welche die Freien Wähler nicht verzichten können. Denn Aiwanger ist der einzige, der für sie Wahlergebnisse von zehn Prozent plus X einfahren kann.
Vielleicht jetzt sogar noch ein wenig mehr, weil sich die Affäre auch günstig für ihn auswirken könnte. Er kann sich als verfolgte Unschuld wie ein angeklagter Ex-US-Präsident gerieren und daraus womöglich noch Kapital schlagen. Nicht alle Wähler sind der Ansicht, dass 35 Jahre zurückliegende Vorgänge heute noch einen Karriereabsturz rechtfertigen. Dazu wird gerne auf einen früher Steine werfenden Ex-Außenminister verwiesen.
Söder gibt Pressekonferenz: Sondersitzung ohne wirkliche Ergebnisse
Soweit so verfahren. Mit der am Dienstag gefundenen Nicht-Lösung tritt ein, was Söder nach eigenen Worten vermeiden will: Eine Hängepartie. Grüne, SPD und FDP werden sich die Gelegenheit nicht entgehen lassen, den Landtag oder seinen Zwischenausschuss zum Fall Aiwanger einzuberufen. Das ergibt kurz vor der Wahl ein Spektakel, das weder Söder und der CSU noch den Freien Wählern recht sein kann.
Wird Aiwanger jetzt doch noch entlassen?
Es sei denn, Aiwanger kann mit den Antworten auf die 25 Fragen hinten und vorne nicht überzeugen. Dann müsste Söder nach seinen Äußerungen vom Dienstag die Notbremse ziehen und seinen Vize entlassen.
Wenn auch Aiwangers Parteifreunde zu dem Schluss kommen, dass ihr Chef nicht mehr zu halten ist, könnte die "Bayern-Koalition" mit anderem Personal weitergeführt werden. "Koalitionen hängen nicht an einer einzigen Person", bemerkte Söder vielsagend. Auf jeden Fall ist der bisher eher biedere Landtagswahlkampf spannender geworden.
Skandal strapaziert Aiwangers Verhältnis zu Ministerpräsident Söder
Übrigens: Warum es erst des Schauspiels eines Koalitionsausschusses bedurfte, um Aiwanger als Hausaufgabe einen Fragenkatalog mitzugeben, erschließt sich auch nicht so ohne weiteres. Söder hätte seinem Stellvertreter die entscheidenden Fragen schon gleich nach Bekanntwerden der Vorwürfe in einem vertraulichen Gespräch auf den Zahn fühlen können.
Das Verhältnis zwischen beiden ist offensichtlich für den kurzen Dienstweg nicht mehr vertrauensvoll genug. Ein Rätsel bleibt auch, warum die Gebrüder Aiwanger die "SZ"-Journalisten nicht gleich mit der jetzt geltenden Darstellung bedient haben.