Sieben Turbojahre für Deutschland
Historisch? Dieses bedeutungsschwangere Wort wird entwertend häufig verwendet. Aber noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik war eine amtierende Regierung vollständig abgewählt worden. Und genau das war am 27. September 1998 geschehen. Mit „Danke Helmut, aber es reicht“ hatte Gerhard Schröder die Stimmung getroffen und den konservativen Deutschen („Keine Experimente“) ihre Angst vor Veränderungen genommen: „Wir wollen nicht alles anders, aber manches besser machen!“
Was dann aber die nächsten sieben Jahre geschah, war wild und atemberaubend. Dass uns 2005 länger vergangen scheint als nur acht Jahre, liegt auch an den letzten vier statischen, schwarz-gelben Regierungsjahren, die sich gefühlt wie Kaugummi ziehen.
Der Münchner Edgar Wolfrum, Professor für Zeitgeschichte an der Uni Heidelberg, hat ein starkes Buch verfasst, das die Schröder-Fischer-Zeit historisch-wissenschaftlich aufarbeitet: „Rot-Grün an der Macht: Deutschland 1998 – 2005“. Die Analyse: Rot-Grün entfaltete innen- und außenpolitisch eine Turbo-Mordernisierung – teils programmatisch, teils von Ereignissen erzwungen.
In unserer „Nie-wieder-Krieg“-Republik mit „bedingungsloser Solidarität“ mit den USA mussten eine pazifistische Partei und eine mit pazifistischem Flügel deutsche Soldaten in den Kosovo und an den Hindukusch schicken. Gleichzeitig geriet Deutschland mit Schröders Nein zum „Abenteuer“ Irakkrieg aus US-Sicht fast in die Nähe eines Schurkenstaates. Aber auch innenpolitisch wehte ein neuer Geist der Berliner Republik: neues Statsbürgerschaftsrecht – mit gescheitertem Doppelpassprojekt, Homoehe gegen katholischen und CDU-Widerstand, eine ökologische Steuerreform, die zu Wahlschlachten an Tankstellen führte, eine Energiewende und der Atomausstieg, ein Gesetz gegen Scheinselbständigkeit und der gescheiterte Versuch Lafontaines, „den Aufstand gegen den neoliberalen Mainstream zu wagen“. Letzteres endete mit dem Rücktritt des Napoleons von der Saar als Superminister und Parteivorsitzender.
Es folgten Figuren wie Hans Eichel und Wolfgang Clement, die die Finanzwelt hofierten und Unternehmenssteuern und Spitzensteuersatz senkten und – wie Wolfrum bemerkt – die „größten Steuerentlastungen in der Geschichte der Bundesrepublik“ vornahmen. War Schröder auf seinem „Dritten Weg“ nicht doch „Genosse der Bosse“?
Wie die Regierung Schröder letztlich nach der „Agenda 2010“-Politik 2005 scheiterte, ist ein Politkrimi. „Es gibt den neokonservativen Ansatz von Union und FDP: Weg mit dem Sozialstaat. Und es gibt den sozialdemokratischen: Veränderungen, damit der Sozialstaat unter neuen Bedingungen erhalten werden kann...“, hatte Schröder es im März 2003 formuliert. Und während SPD und Grüne anfangs sogar einigermaßen auf Linie gebracht werden konnten, brach ein Gewerkschafts- und Mediensturm über die Regierung herein.
Heute besteht kaum Zweifel, dass es die Reformen von Rot-Grün waren, die die deutsche Wirtschaft vom „kranken Mann Europas“ zum krisenfesteren Ringer gemacht haben.
Und eine der großen Wirkungen des Erfolges von Rot-Grün war, dass auch die CDU nicht mehr die gleiche bleiben konnte. Im CDU-Programmpapier 2001 zur „Wiedergewinnung der strukturellen Mehrheit“ hieß es: Man kann nicht Mobilität predigen und noch das Hohelied von Heimat und Familie singen. Wer für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist, muss Ganztagsschulen anbieten. Zuwanderung darf nicht nur nach Arbeitskräftebedarf geschehen.
Das Ergebinis ist die CDU von 2013. Aber was werden am 22. September Konservative machen und was werden Wähler der „neuen oder modernen Mitte“ als Kopie und was als Original bewerten?
Edgar Wolfrum: „Rot-Grün an der Macht: Deutschland 1998 – 2005“ (C.H.Beck, 850 S., 24.95 Euro. Edgar Wolfrum stellt sein Buch am Donnerstag, 12.9., 19 Uhr, im Schweitzer Sortiment am Lenbachplatz 1/Stachus vor, Eintritt frei)
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