Bald reißt der Geduldsfaden
Manchmal steht sich der Kulturbetrieb selber im Weg. Das zeigt sich gerade in schwierigen Zeiten. Statt schnell und zielgenau Konzepte zu entwickeln, verharrt man allzu oft in einer Art Schockstarre. Zu Beginn der Corona-Pandemie wurde viel wertvolle Zeit vergeudet. Das offenbart ein Blick in die Sportwelt. So hat die Fußball-Bundesliga die ersten Wochen des Corona-Ausstands genutzt, um mit Experten ein detailliertes Hygiene-Konzept zu erstellen: für „Geisterspiele“ mit maximal 300 Menschen im Stadion.
Natürlich bleiben viele Fragen offen, so etwa der Körperkontakt zwischen den Spielern. Trotzdem hat selbst Ministerpräsident Markus Söder, Deutschlands oberster „Corona-Terminator“, für eine Überprüfung der Vorschläge plädiert.
Solche Hygiene-Konzepte mögen zeitaufwendig und nicht billig sein, aber: Sie lohnen sich, vor allem wenn man gemeinsam agiert. Doch statt die Realisierbarkeit von Veranstaltungen mit reduziertem Publikum zu prüfen, wurde bislang vor allem auf Live-Streams im Internet gesetzt. Damit möchten alle für sich irgendwie sichtbar bleiben. Diese Angebote sind fraglos wichtig, aber: Ein Konzert-Erlebnis mit Publikum können sie nicht ersetzen, weder klangtechnisch noch atmosphärisch.
Das wissen auch die Veranstalter und nehmen zusehends die Politik in die Pflicht. Unlängst haben sich 40 Musikfestivals mit einem Positionspapier an die Bundesregierung und die Länderchefs gewandt, um auf die existenzbedrohende Situation aufmerksam zu machen. In dem Schreiben fordern sie klare, einheitliche Regelungen sowie differenzierte Maßnahmen, die den unterschiedlichen Veranstaltungsarten mit differierenden Besucherzahlen gerecht werden. Zugleich wird eine „Gleichbehandlung von Kultur mit Sport, Religionsgemeinschaften und Wirtschaft“ angemahnt.
Eine überfällige Definition
Allerdings sollte man von der Politik nicht zu viel mitdenkendes Engagement erwarten. So hat es die Bundesregierung tunlichst vermieden, den nebulösen Begriff „Großveranstaltung“ klar zu definieren. Das sollen die einzelnen Bundesländer tun. Immerhin scheint sich allmählich deutschlandweit eine Grenze ab 1000 Teilnehmern durchzusetzen.
Eine verbindliche Definition ist notwendig und überfällig. Wer aber Rechtssicherheit will, muss im Zweifel selbst aktiv werden – so wie der Fußball. Von großen Symphonieorchestern ist zu hören, dass sie kleinere Konzert-Formate mit Publikum prüfen. Bei den Münchner Philharmonikern wird gemeinsam mit dem Gasteig an einem Hygiene-Konzept gefeilt.
Auch das Ende Mai startende Mozartfest in Würzburg sieht „realistische Chancen für Veranstaltungen mit kleineren Besuchergruppen“. „In den nächsten Wochen werden wir diese Angebote veröffentlichen, die den behördlichen Auflagen Rechnung tragen und Musik nicht nur in den digitalen Raum verlagern“, heißt es in einer Mitteilung. Genau das ist der richtige Weg.
Statt die aktuelle Spielzeit komplett abzusagen, unter politischem Druck oder in vorauseilendem Gehorsam, gilt es, endlich aktiv zu werden. Ob Veranstaltungen ab 1000 Teilnehmern in diesem Jahr noch stattfinden können, wird unter Experten zwar bezweifelt. Darunter scheint keineswegs alles unmöglich.
Der Rechtsweg als Option
Auch Wolfgang Kubicki von der FDP sieht das so. Der Rechtsanwalt und Volkswirt ist zugleich Vizepräsident des Deutschen Bundestags. Auf Nachfrage stellt Kubicki fest, dass sämtliche Abstands- und Distanzregeln sowie Hygiene-Maßnahmen strikt eingehalten werden müssen: und zwar in „jeder denkbaren Situation“. Das gelte beim Einlass, bei der Bewegung am Veranstaltungsort oder beim Toilettengang. Wenn das gewährleistet sei, spreche aus rechtlicher Sicht „nichts gegen eine Genehmigung“.
Umso wachsamer sollte die Kulturszene beobachten, was für Religionsgemeinschaften entschieden wird – oder im Sport. Gottesdienste sind mit kleineren Kammerkonzerten durchaus vergleichbar. Wenn zudem das Hygiene-Konzept im Fußball durchgewinkt wird, könnten sich neue Perspektiven für Tanz- oder Opernaufführungen eröffnen. Sollte bei gleichen Bedingungen eine Kulturveranstaltung nicht genehmigt werden, bleibt im Zweifel der Rechtsweg als Option.
Es geht nicht darum, notwendige Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit zu torpedieren, sondern um rechtsstaatliche Gleichbehandlung. Für Kubicki steht fest, dass mit jedem weiteren Tag der Einschränkung von Grundrechten die „Anforderung an die Begründungstiefe der Maßnahmen“ steigt. „Meine Prognose ist: In einigen Wochen wird auch bei den Gerichten der Geduldsfaden reißen. Dann wird es rechtlich nicht mehr möglich sein, bestimmte Veranstaltungen zu verbieten, obwohl sie die gleichen Voraussetzungen erfüllen wie andere.“
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Das Europakonzert der Berliner Philharmoniker
Es ist eine seltsame Atmosphäre. Hier, in diesem wunderbaren Bau, den die ganze Welt kennt und den alle Musikfreunde lieben, hier, wo sonst so viele Gäste von überallher zusammenkommen, hier ist es mucksmäuschenstill“, sagte Frank-Walter Steinmeier in einem Grußwort vor dem Europakonzert in der leeren Berliner Philharmonie. „Vielleicht wird es den einen oder anderen Puristen geben, der dieses von keinem Räuspern gestörte Musizieren besonders genießt – aber wenn wir ehrlich sind: Wir möchten doch einmal wieder in einem großen Publikum sitzen“, so der Bundespräsident.
Wegen der Hygieneanforderungen angesichts der Corona-Pandemie traten die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko nur in kleiner Besetzung auf. Ursprünglich war das Konzert in Tel Aviv und als Teil des Staatsbesuchs des Bundespräsidenten in Israel rund um den Unabhängigkeitstag des Landes, Jom ha-Atzma’ut, geplant. Wegen der Pandemie wurde der Besuch verschoben und das Gastspiel des Orchesters abgesagt. „Das tut mir leid und den vielen Menschen in Israel, die sich auf das Konzert gefreut hätten, sicher auch“, sagte Steinmeier.
Auf Abstand
Gespielt wurde Arvo Pärts Komposition „Fratres“, György Ligetis „Ramifications“ sowie das „Adagio for Strings“ von Samuel Barber. Darauf folgte die Symphonie Nr. 4 von Gustav Mahler in einer Kammerversion für 14 Musiker, die Erwin Stein 1921 für den von Arnold Schönberg gegründeten „Verein für Musikalische Privataufführungen“ arrangiert hatte. Das Sopransolo im letzten Satz übernahm Christiane Karg.
Die Musiker saßen in großem Abstand. Den Umbau zwischen den Stücken nahmen Techniker mit Mundschutz vor. Wie die Moderatorin der Fernsehübertragung erklärte, hatten sich alle beteiligten Mitglieder des Orchesters auf Corona testen lassen. Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Linke) sagte in einer Pause der Übertragung, es sei ein wichtiges Zeichen, dass in dieser Zeit Kunst und Kultur noch weiter stattfinden.