Filmfestspiele von Venedig: Die Kino-Stars sind zurück
Charlotte Gainsbourg in silbernen Stiefeletten, Kate Hudson in ihrem roten Nichts oder Kirsten Dunst im kleidsamen Schwarzen, sie alle sind weitergezogen zu den Festivals von Deauville oder Toronto. Es wurde ruhiger auf dem Lido.
Fast wie im Rausch: Franz Rogowski spielt einen Menschenverächter
Nach vielen populären Filmen in den ersten Tagen ging es in der zweiten Hälfte mit mehr politischen Themen zur Sache wie dem russischen Blick zurück auf stalinistischen Terror durch den Vorläufer des KGB 1938 in Natasha Merkulova und Aleksey Chupovs "Capitain Volkonogov Escaped" oder in Jan P. Matuszynskis "Leave no Traces", die Rekonstruktion eines Falles, in dem die polnische Regierung 1983 alles tut, um die Fakten um einen von der Polizei zu Tode geprügelten Studenten zu vertuschen. Und Stéphane Brizé erzählte in "Un autre monde" von einer modernen Welt, in der Profit vor Menschlichkeit steht.
Aber letztlich beherrschten die Italiener souverän das Terrain in dieser Woche. Ganz vorne dabei Regisseur Gabriele Mainetti mit "Freaks Out", für Festivalchef Barbera ein "rares Einzelstück des italienischen Kinos". Bei dieser teilweise auf Deutsch gedrehten Mischung aus Groteske und Tragödie, Drama und Komödie, wunderbarem Trash und hypnotischen Märchenbildern verwischen sich die Grenzen der Genres. Im Rom von 1943 leben vier junge Künstler-Freaks wie eine Familie im Zirkus des Juden Israel.
Als der Impresario verschwindet, macht sich das Freak-Quartett auf die Suche in der von Nazis okkupierten Stadt und gerät ins Visier eines völlig durchgeknallten Nazis: Pianist Franz will die ultimative Zirkusshow für seinen "Zirkus Berlin" in Rom, ein Sadist und Killer, der für sein Ziel im wahrsten Sinne über Leichen geht. Franz Rogowski spielt diesen Menschenverächter mit seinen kruden Zukunftsvisionen fast wie im Rausch. Ein Totentanz auf Teufels Vulkan, bei dem ein martialisches Ballett die Beine schwingt, ein Handy plötzlich Bilder vom Führer anzeigt und Rogowski nach seinem Scheitern cool sagt "Game over".
Frauenpower dominiert in vielen von Männern inszenierten Filmen
Als Favorit unter fünf italienischen Beiträgen gilt aber Mario Martones "Qui rido io - King of Laughter" mit einem aktuellen Thema, der Urheberrechtsverletzung. Im Neapel Anfang des 20. Jahrhunderts begeistert der Komiker und Theaterbetreiber Eduardo Scarpetta das Publikum mit seiner Kunstfigur Felice Sciosciammocca und legt sich mit dem berühmten faschistischen Dichter Gabriele D'Annunzio an, der ihn des Plagiats bezichtigt. Aber ist eine Parodie wirklich geistiger Diebstahl? In einem furiosen Auftritt vor Gericht widerlegt Toni Servillo als Hauptfigur den Vorwurf.
Im Vorfeld des Festivals war die lausige Anzahl von fünf Regisseurinnen unter 21 Wettbewerbsbeiträgen moniert, die Kritik legte sich aber bald. Festivalchef Alberto Barbera versprach "faszinierende Frauenfiguren". So dominierte Frauenpower in vielen von Männern inszenierten Filmen wie in Pedro Almodóvars "Madres Paralelas", Pablo Larraíns "Spencer" über Diana oder in Gaston Duprats und Mariano Cohns grandiose Satire "Competencia oficial" über das Filmemachen mit Penélope Cruz als zickiges Regisseurinnenbiest, ein ungewöhnlich leichter Festivalfilm.
Trauma und Verdrängung, Schuld und Sühne: Paul Schrader gelingt ein Meisterwerk
Auch in Ridley Scotts Historien-Schlussknaller außerhalb des Wettbewerbs, "The Last Duel", geht es weit weg vom "Gladiator" nicht nur um Verrat und Rache, Männerfreundschaft und Männermacht, sondern um eine couragierte Frau im 14. Jahrhundert, die für die Wahrheit kämpft, wenn sie den besten Freund ihres Mannes der Vergewaltigung beschuldigt.
Die siebenköpfige Jury unter dem koreanischen Oscar-Gewinner Bong Joon Ho ("Parasite") steht bei der Anzahl von guten Filmen vor einer schwierigen Aufgabe. Junge und renommierte Regiestars wie Audrey Diwan mit "L'événement - Das Ereignis" oder Paul Schrader mit "The Card Counter" begegnen sich auf Augenhöhe. Schrader gelang ein Meisterwerk mit seiner Reflexion über Trauma und Verdrängung, Schuld und Sühne.
Exzellentes Debütwerk: "The Lost Daughter" von Maggie Gyllenhaal
Und ein schmerzender Schlag war Diwans emotionale Verfilmung von Annie Ernauxs Buch "L'événement" über ihre traumatischen Erfahrungen einer Abtreibung in den 60er Jahren. Die ist strafbar und die schwangere Studentin Anne findet keinen Arzt, versucht selbst, den Fötus zu töten, landet bei einer Engelmacherin. Angst, Verzweiflung und Einsamkeit eines Menschen, in einer Gesellschaft des Schweigens machen betroffen. Der Film ist ein Fanal, nie mehr das Recht auf weibliche Selbstbestimmung aufzugeben. Für die Regisseurin ist das Thema trotz aller Legalisierung noch ein Tabu, sie setzt ein Zeichen gegen Bewegungen wie in Polen oder in Frankreich von Marine Le Pen, die die Uhr zurückdrehen wollen.
An Maggie Gyllenhaals exzellentem Debütwerk "The Lost Daughter" kann die Jury wohl auch kaum vorbeigehen. Der "Spezialpreis der Jury" entpuppt sich oft als Überraschungscoup. Da würde sich Michelangelo Frammartinos dokumentarisches Filmessay "Il buco" anbieten über eine Höhlenexpedition in den 1960er Jahren, fast ohne Worte und weit weg von den Hochhäusern der Zukunft widmen sich die Forscher einer fremden Vergangenheit.
Mauer am roten Teppich: Publikum lässt sich die Laune nicht verderben
Die immer noch bedrohliche Pandemie hat am Lido die Lust am Kino nicht zerstören können, nicht nur die Stars, auch das Geschäft ist zurück. Nach einiger Zurückhaltung im letzten Jahr stieg die Zahl der Akkreditierten auf fast 70 Prozent des letzten ohne Coronaeinschränkungen durchgeführten Festivals von 2019. Und das Publikum ließ sich auch von der Mauer um den roten Teppich nicht die Laune verderben, stand dicht gedrängt am Kanal zum Hotelpalast Excelsior, winkte den Booten und ihrer prominenten Fracht zu.
Festivalchef Alberto Barbera schaffte es, trotz aller Corona-Regeln ein tolles Festival auf die Beine zu stellen mit einem durchweg gutem Programm, das Arthouse-Kino und Blockbustern ein Forum bot.
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