Teil eins der AZ-Serie München 1968: Die APO und die Opas
München - Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst der "Außerparlamentarischen Opposition" (APO). Alle Mächte des "Establishments" haben sich, unter dem Vorwand der Abwehr des Radikalismus, zu einer heiligen Hetzjagd gegen dieses Gespenst namens "APO" verbündet: besorgte Politiker und Polizisten, Ämter-Patrone und eine gewisse populäre Presse. Schon gefällt sich ein bayerischer Staatssekretär a.D., ein Sozialdemokrat ausgerechnet, mit der Drohung, die soldatischen Traditionsverbände gegen die Unruhestifter zu mobilisieren. Sollen wieder Freikorps die Freiheit retten?
Um noch einmal das bildkräftige "Kommunistische Manifest" von 1848 zu bemühen: Diese gespensterhafte APO "wird bereits von allen bestehenden Mächten als neue Macht anerkannt", teilweise auch ernst genommen.
Die APO ist noch nicht organisiert
Noch aber ist sie zersplittert. Zu vielfältig und unterschiedlich sind die einzelnen Gruppen und Grüppchen, als dass sie auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden könnten. Im politischen Spektrum reicht diese Opposition etwa von der "Vereinigung unabhängiger Sozialisten", die mit streng gläubigem Marxismus die Welt verändern will, bis zu den Nationalen, Neutralisten und Rechtspopulisten, die eine "Deutsche Volkspartei" gegründet haben. Sogar innerhalb des "Sozialistischen Deutschen Studentenbundes" mit seinen 2.000 Mitgliedern, der sich als "Kristallisationskern auch der nichtstudentischen westdeutschen Linken" versteht, kam es zu Auseinandersetzungen. Kann dieses Konglomerat jemals zusammenfinden?
Der Wille zum Zusammengehen jedenfalls ist zum Beginn des Jahres 1968 auf allen Seiten gewachsen. Schon haben sich die meisten der Oppositionsgruppen auf gemeinsame Angriffsziele eingeschossen: den Vietnamkrieg, die Große Koalition, die von ihr vorbereiteten Notstandsgesetze, den Presse-Cäsar Springer.
In dieser Front spielen ideologische Gegensätze – zunächst jedenfalls – kaum eine Rolle. Frühere Prozessionen mit Transparenten und Protestsongs hatten dagegen zu wirkungsloser Schwärmerei geführt, die Kampagnen gegen das ungenau definierte "Establishment" und die ebenso vagen "autoritären, restaurativen Tendenzen" zu ungezieltem Störfeuer und Anarchismus.
Erste Ansätze zu einer Integration der oppositionellen Kräfte sind jetzt unverkennbar. Ein Signal wird Mitte Januar in München hochgezogen: mit der Gründung einer "Demokratische Aktion". Ihr haben sich Abgeordnete von SPD und FDP, Gewerkschafter und namhafte Publizisten angeschlossen. Im "Hotel Europäischen Hof" haben sie hinter spanischen Wänden ihr grundsätzliches Einverständnis mit einer grundgesetztreuen außerparlamentarischen Opposition erklärt.
Die Flugblätter kommen in Riesenauflage aus der Presse
"München, einst Hitlers ‚Hauptstadt der Bewegung’, ist der Ausgangspunkt einer kraftvollen, überparteilichen Gegenbewegung aller wahren Demokraten." So heißt es auf einem Flugblatt, das in Riesenauflage aus der Druckpresse kommt. Gleichzeitig erscheinen in den großen Zeitungen kleine Anzeigenblöcke mit dem Aufruf: "Nochmal? Nicht mit uns!" Das O zieren Hitlertolle und Bartbürste – als Blickfang und Symbol.
Symbol für "Restauration, Neofaschismus und Notstandspläne", wogegen sich das Flugblatt ausspricht. Es sagt aber auch, wofür es agitiert: "Für Fortschritt, Frieden, Freiheit." Es will den Staub aufwirbeln, der sich im Gefolge der Großen Koalition unter einem Kanzler, der Mitglied der Nazipartei war, in deutschen Landen abgelagert hat, und der nach Meinung kritischer Zeitgenossen immer mehr die politische Problematik, die fruchtbare Auseinandersetzung um Grundfragen, die gesellschaftlichen Risse zuzudecken droht.
Die Münchner Aktionäre hegen die Hoffnung, eine breite Kampagne im ganzen Bundesgebiet anstoßen zu können. "Wenn die, die sich Demokraten nennen, ihre Pflicht nicht erfüllen, müssen wir alle die unterstützen, die wie Demokraten handeln," heißt es im Aufruf zu einer ersten Kundgebung am 31. Januar, dem 35. Jahrestag von Hitlers "Machtergreifung", im Deutschen Museum.
Zu den über 150 Unterzeichnern des Aufrufs gehören auch Professoren wie der Nobelpreisträger Max Born, Schriftsteller wie Heinrich Böll, Hans-Helmut Kirst, Hermann Mostar und Gerhard Zwerenz, der Verleger Kurt Desch, die Publizisten Ernst Müller-Meiningen jr. und Helmut Lindemann, die Gewerkschaftler Wilhelm Gfeller (von der IG Chemie) und Georg Benz von der IG Metall, der frühere Daimler-Benz-Generaldirektor Fritz Koenecke und Generalstaatsanwalt Fritz Bauer.
Auf der Massenkundgebung sprechen außer den Unterzeichnern des Aufrufs: die Kabarettisten Ursula Herking und Dieter Hildebrandt, die Schauspieler Paul Dahlke, Hans Clarin und Siegfried Lowitz (sie lesen Texte von Brecht und Tucholsky). Mitunterschreiberin Hildegard Hamm-Brücher, hessische Staatssekretärin aus Bayern, war als "liberale Stimme" eingeplant, musste aber zum FDP-Parteitag. Die Ostberliner Diseuse Gisela May war in Polen. Und der Westberliner Studentenführer Rudi Dutschke wurde, gegen Protest einiger Mitveranstalter, vom Vorstand wieder ausgeladen. Hildegard Knef, "die auf unserer Seite steht", konnte auch nicht kommen.
Die Veranstaltung am 31. Januar endet mit Tumulten. Als der Krimi-Autor Frank Arnau vor 3.000 Menschen sagt, die Zeit sei vorbei, in der "ein schmieriger brauner Mob" eine demokratische Versammlung zusammenschlagen könne, brüllen rund 300 NPD-Anhänger los.
Die Revolte hat ihr erstes Opfer
Unter Störfeuer stellt der Schriftsteller Günther Weisenborn fest, es gebe in der Geschichte Deutschlands keinen Krieg, der nicht von rechts vorbereitet worden sei. Deshalb sei es höchste Zeit, sich wieder gegen Rechtsradikalismus und Restauration zu rüsten. Als es zu Prügelszenen mit den Saalordnern kommt, bricht der 57 Jahre alte Rentner Carl Hoffmann zusammen – er stirbt im Krankenhaus an einem Herzschlag. Die Revolte hat ihr erstes Opfer.
Die Kernfrage bleibt offen: Kann das geistige München eine Kampfgemeinschaft bilden mit den Studenten, die schon seit geraumer Zeit den Aufstand proben? Gibt es eine Verständigungsbasis?
Noch ist es nicht so weit. Noch stoßen Schriftsteller und Künstler, auch wenn sie eindeutig links stehen, auf eher ablehnende Reaktionen. Hildebrandt wird als "politischer Kasperl" abgetan. Als der universale Lothar Günther Buchheim seine Kunstbücher vorstellen will, wird er von Demonstranten, die für Demokratisierung der Literatur plädieren, als Kapitalist angepöbelt: "Sie stecken auch schon knietief im Establishment." Und sogar Erich Kuby, einer der schärfsten Kritiker der vermufften Nachkriegs-Demokratie, erfährt eine Abfuhr: "Schrei doch nicht so rum, Opa."
Die Opas der Apo
Opas sind halt bei den jungen Revoluzzern nicht gefragt. APO heißt ihr Panier. Die Revolte ist anscheinend als geschlossene Jugendvorstellung gedacht. Kubys Sohn Thomas redigiert eine von der "Aktionsgemeinschaft Demokratische Universität" herausgegebene Zeitung mit hoher Startauflage.
Und "APO-Press", das hauseigene Kampforgan, kündigt die nächste Demonstration "gegen Kriminalisierung und Disziplinierung der Studenten" für den 28. Februar an, während die "Demokratische Aktion" auf weitere Kundgebungen verzichtet und sich fortan mit einem eigenen Pressedienst namens PDI begnügt.
Hier lesen Sie die Einführung in die Serie
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