Ulrich Wickert: "Wenn die Équipe gewinnt, sind plötzlich alle begeisterte Franzosen"

Die Nationalelf als Symbol der Einheit? In der AZ spricht Uli Wickert über Rassismus in seiner zweiten Heimat - und was sich Präsident Emmanuel Macron von Bundeskanzlerin Angela Merkel abgeschaut hat.
Krischan Kaufmann
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"Sollte Frankreich den EM-Titel holen, wird sollte Frankreich den EM-Titel holen, wird Emmanuel Macron die Mannschaft natürlich wieder im Élysée-Palast empfangen", glaubt Frankreich-Kenner Uli Wickert.
Francois Mori/AP/dpa 2 "Sollte Frankreich den EM-Titel holen, wird sollte Frankreich den EM-Titel holen, wird Emmanuel Macron die Mannschaft natürlich wieder im Élysée-Palast empfangen", glaubt Frankreich-Kenner Uli Wickert.
Der frühere "Tagesthemen"-Moderator Ulrich Wickert.
picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild 2 Der frühere "Tagesthemen"-Moderator Ulrich Wickert.

EM-Gespräch mit Ulrich Wickert: Der TV-Journalist (78), auch bekannt als "Mr. Tagesthemen", berichtete jahrelang als Korrespondent für die ARD aus Frankreich.

AZ: Herr Wickert, Sie haben lange Zeit für die ARD aus Paris berichtet, pendeln heute noch regelmäßig zwischen Hamburg und Ihrem Ferien-Wohnsitz in Südfrankreich. In Deutschland tut man sich selbst nach dem 7:1 gegen Lettland mit der EM-Euphorie noch etwas schwer. Haben Sie dafür im Land des Weltmeisters schon ein wenig Vorfreude auf dieses Turnier registriert?
ULRICH WICKERT: Natürlich lodert in Frankreich schon das Fußball-Fieber. Man darf ja nicht vergessen, dass der französische Fußball seit langer, langer Zeit wirklich weltklasse ist. Und die Franzosen sagen ja auch zurecht: ,Wir können diesen Titel nach Hause holen.'

Der frühere "Tagesthemen"-Moderator Ulrich Wickert.
Der frühere "Tagesthemen"-Moderator Ulrich Wickert. © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild

Typisch deutscher Pessimismus trifft also auf typisch französischen Optimismus. . .
Na ja, hierzulande liegt die verhaltene Stimmung vor allem daran, dass eine gewisse Unzufriedenheit mit der Nationalmannschaft vorherrscht. Bundestrainer Jogi Löw ist nicht mehr so populär, seine Entscheidungen - auch wenn er jetzt Thomas Müller zurückgeholt hat - haben zuletzt dazu geführt, dass die Nationalmannschaft eben nicht mehr sonderlich erfolgreich war.

Wenn die Mannschaft gewinnt, sind alle begeisterte Franzosen

Frankreich wirkt wie ein Land im Aufruhr: Die Wirtschaft kam schon vor der Corona-Krise nicht in Schwung, der Front National versucht, mit seiner rechten Politik die Gesellschaft zu spalten und in den migrantisch geprägten Vorstädten schlägt die Perspektivlosigkeit in Gewalt und eine Ablehnung des Staates um. Das Land könnte also die Nationalelf als einendes Symbol der Zuversicht gerade gut gebrauchen.
In dem Moment, wenn die Équipe tricolore gewinnt, sind plötzlich alle vor allem eins: begeisterte Franzosen. Auch beim WM-Sieg 1998 war Frankreich in einem Zustand wie jetzt - das ist bei den Franzosen übrigens häufiger so. Damals hat Charles Pasqua, zu dieser Zeit Innenminister unter Präsident Jacques Chirac, plötzlich die Einheit der Franzosen beschworen. Und sogar die konservative Tageszeitung "Le Figaro" schrieb: ,Was sind wir Franzosen doch für eine fantastische Mixtur!' Warum Mixtur? Weil damals - wie auch heute - viele der Nationalspieler nicht die Gallier als Vorfahren hatten, sondern ihre Wurzeln in den ehemaligen französischen Kolonien, in Nordafrika oder der Karibik, lagen. Und so war es auch dann wieder, als Frankreich 2018 Weltmeister wurde.

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Trotzdem wird in Frankreich pünktlich zum ersten Spiel wieder die obligatorische "Marseillaise"-Debatte entbrennen, also die Diskussion darüber, warum viele Spieler die französische Nationalhymne nicht mitsingen.
Über dieses Thema wird ja auch in Deutschland immer wieder diskutiert. Ich persönlich finde es grundsätzlich nicht schön, wenn man eine Mannschaft ist und dann einige Spieler sich dem Individualismus hingeben. Aber es stimmt schon, diese Debatte wird in Frankreich noch ein wenig leidenschaftlicher als bei uns geführt.

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Gerade in Deutschland galt die Nationalmannschaft lange Zeit als Musterbeispiel für eine gelungene Integration. In Frankreich, wo der Anteil an Spielern mit ausländischen Wurzeln in der Nationalelf deutlich höher ist, wird über dieses Thema jedoch kaum gesprochen. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Weil in Frankreich immer zuerst gilt: Franzose ist Franzose. Und wenn es einer aus den Banlieues (Vorstädten, d. Red.) in die Topmannschaften schafft, ist es zwar ein Zeichen für eine gelungene Integration. Aber: Darüber spricht man in Frankreich nicht - denn das ist eine Selbstverständlichkeit. Es gibt ja in Frankreich auch längst Ministerinnen oder Minister, deren Vorfahren aus Marokko oder einer anderen ehemaligen französischen Kolonie kommen. So weit sind wir in Deutschland noch lange nicht!

"Benzema ist ein besonderer Fall"

Trotzdem beschweren sich immer wieder französische Nationalspieler mit migrantischer Abstammung, diskriminiert zu werden. Karim Benzema, Superstar von Real Madrid und gerade erst nach fünfjähriger Verbannung in die Equipe zurückgekehrt, klagte einmal: "Wenn ich treffe, bin ich Franzose. Wenn nicht, bin ich der Araber." Hat er recht?
Dieser Mann ist ein besonderer Fall, denn Benzema ist ja auch deshalb so lange nicht wieder in die französische Nationalmannschaft aufgenommen worden, weil er wohl einem Nationalmannschaftskollegen übel mitgespielt haben soll (Benzema war angeblich in die Erpressung mit einem Sex-Video von Mathieu Valbuena verwickelt, Anm. d. Red.). Aber natürlich gibt es dieses Rassismus-Problem in Frankreich - genauso wie bei uns in Deutschland.

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In Deutschland sind Fußball und Politik seit jeher eng verbunden. Angela Merkel und Joachim Löw pflegen ein fast freundschaftliches Verhältnis. Wie man weiß, schaut der Bundestrainer sogar einmal im Jahr auf eine Portion Bratkartoffeln im Kanzleramt vorbei. So eine Nähe wäre bei Didier Deschamps und Emmanuel Macron kaum vorstellbar, oder?
Natürlich benutzt auch die Politik in Frankreich den Fußball als Massenphänomen und es würde mich sehr wundern, wenn Macron jetzt nicht beim Auftaktspiel in München dabei wäre. Und sollte Frankreich den EM-Titel holen, wird er die Mannschaft natürlich auch wieder wie 2018 im Élysée-Palast empfangen. Da hat sich Emmanuel Macron womöglich auch ein bisschen was von Angela Merkel abgeschaut. (lacht) Aber ein französischer Präsident ist von seiner Rolle dann doch etwas anders als ein deutscher Bundeskanzler oder eine Bundeskanzlerin, er lebt vielmehr von der Würde, die sein Amt ausstrahlt. Auf etwas Kumpelhaftes würde er sich öffentlich nie einlassen. Der Präsident ist in Frankreich immer noch eine Art König.

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