Nagelsmann schlägt Alarm: "Dann kann dich auch jede Drittliga-Mannschaft auseinander spielen"
Der Tag danach im Quartier der deutschen Nationalelf in Herzogenaurach? Bitter, grau in grau wie das Wetter. Nach einem Ausscheiden bei einem Turnier, das einen Pokal auslobt, fühlen sich Kopf und Glieder leer – auch wenn es nur ein Titelchen wie in der Nations League ist.
Und die Tage vor einem Spiel um Platz drei? Meist sinnfrei, zäh. Als müsse man infolge einer Zahnwurzelbehandlung noch mal den Mund aufreißen, weil bei Termin eins was schiefgelaufen ist.
Apropos etwas aufreißen – da kommt Freude auf mit Blick auf das Spiel gegen Frankreich oder Spanien am Pfingstsonntag in Stuttgart (15 Uhr, RTL & DAZN). Nicht wirklich. So kurz vor dem Urlaub wie für einen Teil der Profis oder so kurz vor dem Abflug zur Klub-WM in den USA wie für die Bayern- und Dortmund-Spieler. Oder wie im Fall von Nationalelf-Debütant Nick Woltemade, der nach dem Bronze-Spiel zur U21 zurückkehrt, um die Vorbereitung auf die EM in der Slowakei aufzunehmen.
DFB: Implosion nach dem eigenen Führungstor
Beim 1:2 gegen Portugal wurde wie schon bei der Heim-EM 2024 in einem K.o.-Spiel gegen einen Top-Gegner (damals das dramatisch mit 1:2 in der Verlängerung verlorene Viertelfinale gegen Spanien) deutlich, dass dieser Mannschaft die absolute Wettkampfhärte, die Widerstandsfestigkeit abgeht – und diesmal natürlich eine Reihe von Stammspielern wie Abwehrchef Antonio Rüdiger, Ideengeber Jamal Musiala & Co.

Bundestrainer Julian Nagelsmann fehlte "die Galligkeit", Mittelfeldspieler Leon Goretzka "der Mut". Für Kapitän Joshua Kimmich, vor Anpfiff für sein 100. Länderspiel geehrt, war es "eines unserer schlechtesten Spiele, eine absolut verdiente Niederlage. In der zweiten Halbzeit war das nach unserem 1:0 gar nichts mehr. Man hat nicht gemerkt, dass wir eine Siegermentalität haben." Warum fehlten neben der Qualität in der Defensive (zu anfällig) und der Offensive (zu ideenlos) die Galligkeit, die Gier, der Mut? Warum kippte das Spiel trotz des Führungstores von Florian Wirtz (48.)?

Nagelsmann: "Wir waren sehr schläfrig, wollten Energieträger reinbringen"
So kurios es klingt, der Treffer des Bald-Liverpoolers Wirtz war einer der Knackpunkte. Plötzlich hatte die DFB-Elf nichts mehr entgegenzusetzen. Auch deshalb, weil von der Bank der falsche Impuls kam mit dem Dreifach-Wechsel. Also Serge Gnabry für Leroy Sané als Rechtsaußen, Robin Gosens auf der linken Seite für Maximilian Mittelstädt und Niclas Füllkrug für Nick Woltemade auf der Mittelstürmer-Position. Zu viel Aktionismus bei einer Führung?
Nagelsmann wollte "eigentlich schon in der Halbzeit wechseln" und erklärte: "Wir waren sehr schläfrig, wollten Energieträger reinbringen." Auf Nachfrage antwortete er etwas schnippisch: "Es ist mein Job, Leistungen zu bewerten. Und hinterher ist man immer schlauer, ob als Trainer oder Journalist." Ja, isso.

Der Bundestrainer sprach von "schweren taktischen Fehlern, die zu den Gegentoren geführt haben". Dadurch sei "die Dynamik im Spiel gekippt". Dennoch mischte er in seine Kritik eine Schutzhaltung gegenüber seinen Spielern. "Ich habe keine große Lust, draufzuhauen. Ich weiß, welche Entwicklungsschritte diese Mannschaft gegangen ist und welchen Weg sie in den letzten Wochen gegangen ist."
Zwischen Fortschritt und Rückfall
Seinen Weg. Mit der Heim-EM entdeckte die Fußball-Nation wieder die Liebe zu ihrer Nationalmannschaft, in nun 18 Länderspielen seit dem Neustart im März 2024 durch das 2:0 in Frankreich gab es lediglich zwei Niederlagen.
Sind Gegner wie Spanien und Portugal eine Nummer zu groß? "Wir müssen 100 Prozent geben, dann können wir mit den Top-Nationen mithalten oder sind sogar besser", betonte Nagelsmann. Er weiß aber auch: "Wenn du nicht zu 100 Prozent attackierst, dann kann dich auch jede Drittliga-Mannschaft auseinander spielen."
Diese Lehre muss fruchten. Eine Frage der Einstellung. "Jeder Spieler muss für sich entscheiden, ob er alles reingeworfen hat", sagte Nagelsmann bei DAZN und meinte damit indirekt: Nein. Andererseits, so der 37-Jährige: "Wenn ja, dann müssen wir tiefer graben."
Klingt schwer nach Wurzelbehandlung.