AZ-Serie: Das Wunder und die Wunde von Bern
Am Sonntag ist es soweit, dann wird es im Wüstenstaat Katar erstmals in der Geschichte eine Winter-Fußball-WM geben. Zeit für einen Blick zurück auf die deutsche WM-Herrlichkeit mit den bisher vier WM-Titeln.
AZ-Reporter Florian Kinast, der gerade das Buch "Die Könige der Welt - die Geschichte der Fußballweltmeisterschaften von 1930 bis heute" veröffentlicht hat, nimmt sich dieser historischen Momente in der neuen AZ-Serie an. Hier der erste Teil: das Wunder von Bern im Jahre 1954.
Tags darauf, als Kanzler Adenauer und Bundespräsident Heuss noch rechtzeitig ihre Glückwunschtelegramme nach Spiez gesendet hatten, traten die Weltmeister in einem kurzfristig bereitgestellten und mit der Aufschrift Fußball-Weltmeister 1954 bepinselten Sonderzug der Deutschen Bundesbahn ihre Triumphfahrt Richtung Heimat an.

Noch in der Schweiz winkten ihnen jubelnde Menschen entlang der ganzen Strecke zu, nach einer Nacht im Hotel Bayerischer Hof in Lindau und einem Weißwurstfrühstück in der örtlichen Spielbank ging die Reise mit einigen Zwischenstopps etwa in Kaufering und Buchloe weiter Richtung München.
Überall waren die Bahnsteige hoffnungslos überfüllt. Ein mehrtausendfaches Empfangskomitee stellvertretend für die Millionen im Land, die in einen grenzenlosen Jubelrausch verfallen waren. Wie überwältigt die Spieler waren, die nie mit solch einer Begeisterung gerechnet hatten, drückte sich im Satz von Jupp Posipal aus, der sagte, sie hätten "Tränen in den Augen" gehabt. Und: "Das konnte kein Mensch aushalten."
Am Münchner Hauptbahnhof präsentierte Fritz Walter den Weltpokal
Um 16.04 fuhr der Zug ein, auf Gleis 11 des Münchner Hauptbahnhofs. Aus den offenen Fenstern schauten die Weltmeister heraus, sie trugen grüne Anzüge, winkten den Menschen auf dem Bahnsteig entgegen. Fritz Walter schwenkte den WM-Pokal, den er 45 Stunden zuvor im Wankdorfstadion entgegengenommen hatte und den er, wie es schien, nie mehr loslassen wollte.

Als die Spieler ausstiegen, hatte sich Thomas Wimmer in Stellung gebracht. Eigentlich wollte der Münchner Oberbürgermeister ja jeden einzelnen der siegreichen Mannschaft per Handschlag begrüßen. Doch dazu kam es nicht, in voller Ekstase durchbrachen die Massen die Absperrungen und spülten Wimmer fort.
WM-Titel 1954: 300.000 Menschen empfangen ihre Weltmeister
Wimmer war in München nach dem Krieg der Vater des Rama dama, als er die Stadtbevölkerung zur gemeinsamen Beseitigung des Kriegsschutts aufrief. Nun wurde er selbst hinweggeräumt. Mühsam bahnten sich Sepp Herberger und seine Männer den Weg durch den wogenden Wahnsinn, hin zu den zwölf Mercedes-Cabrios, mit denen sie dann im vom Polizei-Paradepferd Prinzess angeführten Corso über den Stachus Richtung Marienplatz fuhren - mitten durch ein Jubelmeer von mehr als 300.000 restlos begeisterten Menschen.

Über den triumphalen Empfang in München schrieb Fritz Walter später in seinen Memoiren: "So viel Liebe, so viel Begeisterung. Das haben wir nicht erwartet."
Es hatte ja auch niemand irgendetwas erwartet von dieser deutschen Mannschaft, bei ihrer ersten WM-Teilnahme nach dem Krieg. Man war ja froh, überhaupt endlich wieder mitspielen zu dürfen. Und dann holte man plötzlich den Titel, im Finale gegen die als unschlagbar geltenden Ungarn, am 4. Juli 1954, an einem Tag, den später viele als eigentliche Gründungsstunde der Bundesrepublik bezeichneten. Ein Tag, der wegen seiner Bedeutung in der Reihe epochaler Ereignisse des 20. Jahrhunderts gerne in einem Atemzug genannt wird mit dem Kennedy-Attentat, der Mondlandung, dem Mauerfall.
Bei der Titelfeier im Löwenbräukeller sorgte der DFB-Präsident für einen Eklat
In Neuhauser und Kaufingerstraße zogen die Geschäfte Spruchbänder hoch: Es lebe unsere siegreiche Elf. Vom Gerüst des Rohbaus, in das später das Modehaus Hettlage einziehen sollte, intonierte ein Zimmermann auf einer Trompete den Triumphmarsch aus der Aida, an der Zentrale des Münchner Begräbnisvereins hisste man das Transparent "Herzlich willkommen".
Im Rathaus angekommen klappten auf den zweiten Versuch dann endlich die Gratulationsbekundungen von OB Wimmer. Jeder Spieler erhielt die Silberne Sportplakette und ein Erinnerungsbuch der Stadt München, und wie die Süddeutsche Zeitung schrieb, dazu auch Erdbeerkuchen, Prinzregententorte, Kaffee und Cognac.
Von Bayerns Ministerpräsidenten Hans Ehard gab es später noch einen Porzellanlöwen, abends noch ein denkwürdiges Fest im Löwenbräukeller - als DFB-Präsident Peco Bauwens seine berüchtigte, bis heute kontrovers diskutierte Rede hielt, als er in pathetischem Geschwafel die Helden von Bern als "Repräsentanz besten Deutschtums" bezeichnete und dem "Führerprinzip im guten Sinne des Wortes" huldigte. Der damals verantwortliche BR-Redakteur erklärte, er habe sich dadurch mit Entsetzen an den Tonfall des tausendjährigen Reichs erinnert gefühlt. Und deswegen blendete sich der Bayerische Rundfunk kurzerhand aus der Live-Übertragung aus.
Nach der Final-Niederlage entlädt sich in Ungarn der Frust
Für die Menschen in Ungarn hingegen wurde die Finalniederlage zur nationalen Tragödie. Nach dem Abpfiff entluden sich Trauer, Wut und Zorn auf den Straßen von Budapest. Zerstörte Schaufenster, eine umgekippte Straßenbahn, als Trainer Gusztav Sébes aus der Schweiz nach Hause kam, war seine Wohnung vom Mob verwüstet.
Die Ausschreitungen der auch durch die politischen Umstände der KP-Diktatur erzürnten Massen waren ein Ventil für die aufgestaute Unzufriedenheit im Land und bildeten den Anfang einer unruhigen Zeit, die zwei Jahre später im Volksaufstand mündete. Torwart Grosiçs meinte einmal: "Ohne die Niederlage von '54 hätte es 1956 nicht gegeben."
Viele der Ungarn-Helden verfolgte die WM-Schmach bis zuletzt
Mit dem Aufstand endete auch die Ära der Goldenen Elf, die nach dem Endspiel von Bern weitere 18 Mal in Serie ungeschlagen blieb. Ferenc Puskás, der mit Honved Budapest während der Revolution gerade auf Spanien-Tournee war, setzte sich wie viele andere Spieler ins Ausland ab, später wurde er ein gefeierter Star bei Real Madrid. Die Schmach von 1954 verfolgte ihn bis zuletzt, so wie alle anderen seiner Mannschaftskollegen.
Abwehrspieler Jenö Buzánszky sagte später, er habe am 4. Juli 1954 das letzte Mal in seinem Leben geweint. Danach nie mehr, nicht einmal bei den Beerdigungen seiner Mutter und seines Vaters. Trainer Sébes starb 1986. Es gibt die Geschichte, dass er in den letzten Monaten nicht mehr sprechen konnte, kurz vor seinem Tod seinem Freund György Szepesi aber am Sterbebett noch einmal einen letzten Satz ins Ohr flüsterte: "Wir haben verloren."
Sie konnte nie verheilen. Die Wunde von Bern.
"Könige der Welt" von AZ-Reporter Florian Kinast ist im dtv-Verlag erschienen, 489 Seiten, 16 Euro