Dampfkessel Bayern: „Es brodelt!“
Nach dem fahrigen 3:3 gegen Bochum gibt es klar vernehmbare Klinsmann-raus-Rufe. „Das tut weh“,sagt der Trainer. Nun vollzieht er einen Kurswechsel: Er prangert die Spieler öffentlich an.
MÜNCHEN Es dauerte eine Nacht. Dann hatte Jürgen Klinsmann genug: Er änderte seinen Kurs. In den Wochen und Monaten zuvor hatte er seine Spieler nie in der Öffentlichkeit kritisiert oder ihnen gar Konsequenzen angedroht. Aus. Schluss. Vorbei.
Am Morgen nach dem peinlichen, weil binnen weniger Minuten in der Schlussphase verdaddelten 3:3 gegen den VfL Bochum, ließ sich Klinsmann vom vereinseigenen „fcb.tv“ interviewen. Er hatte etwas zu sagen. Eine Botschaft nach draußen, zugleich war’s eine interne Drohung. „Die Enttäuschung sitzt tief“, sagte Klinsmann, er habe „auch eine gewisse Wut“. Auf die Spieler. „Da brodelt es in einem, es war eine unruhige Nacht. Es tut weh, aber ich bin von Natur aus ein Kämpfer. Ich weiß, wo im Moment die Probleme stecken. Einzelne Spieler werden angesprochen, mit Fernsehbildern können wir jeden Fehler problemlos aufzeigen.“
Er kündigte eine Mannschaftsbesprechung an, es wurde eine Standpauke.
Vor allem José Ernesto Sosa, Lukas Podolski und Tim Borowski waren die Adressaten; sie waren beim Stand von 3:1 eingewechselt worden. „Die Leute, die reinkommen, legen nicht die gleiche Einstellung an den Tag wie ein 34-Jähriger, der sich 80 Minuten lang für die Mannschaft abrackert“, meinte Klinsmann und spielte auf den Doppeltorschützen Zé Roberto (34) an. Der Coach knallhart: „Das kann ich nicht akzeptieren. Jeder Spieler muss uns zeigen, dass er für den FC Bayern mit 100 Prozent Herz da ist, dass er alles von sich abverlangt.“
Es brodelt in Klinsmann. Weil er weiß: Aus einem netten, Ruhe spendenden 3:1 gegen Bochum war durch Arroganz und Unachtsamkeit ein doppelter Punktverlust geworden, schmerzhafter als eine Niederlage. Kippte an diesem ersten Oktobersamstag im Jahr 2008 binnen acht Minuten das gesamte Klinsmann-Projekt?
„Es wird mit Sicherheit ein bisschen Leben reinkommen. Wir werden dafür sorgen, dass es in der Bundesliga nach oben geht“, versprach der Coach, der sich aber bewusst ist: „Letztendlich muss der Trainer seinen Kopf dafür hinhalten, wenn die Dinge nicht genau so umgesetzt werden, wie man sie den Spielern aufgibt.“ Es tut sich was. Es rumort beim FC Bayern – mehr noch: Es brodelt, nicht nur in Klinsmann. Der ganze Verein ist ein Dampfkessel – eben wegen Klinsmann.
Die Fans: Waren es am Dienstag gegen Lyon nur ein Plakat („Ami, go home!“) und die Rufe weniger Zuschauer, waren am Samstag die „Klinsmann- raus!“-Rufe kurz vor Schluss deutlich zu vernehmen. Die Stadionregie war fix und spielte sofort den Song „Seven Nation Army“ von den White Stripes ein, dessen Bässe alles übertönten. Manager Uli Hoeneß wollte die Rufe „nicht gehört“ haben, Vorstandsboss Karl-Heinz Rummenigge auch nicht. Klinsmann dagegen hatte es mitbekommen: „Das tut weh.“
Die Bosse: Eine überaus gereizte Stimmung war nicht verbergen. „Sonst noch was?“, raunzte Hoeneß die Journalisten nach einem kurzen Statement an und entgegnete auf die Bitte nach einer Bilanz zu 100 Tagen Klinsmann (am Dienstag): „Die Bilanz sage ich ihnen am 30. Juni, da ist unser Geschäftsjahr zu Ende.“ Den Eingewechselten blaffte er zu: „Der eine oder andere, der reinkommt, muss sich hinterfragen, ob das, was er da abliefert, noch dem entspricht, wofür er bezahlt wird.“
Torhüter Michael Rensing taumelt unter der Last der Kahn-Nachfolge, Luca Toni trifft nicht mehr, die Abwehr hasardiert. 2:2, 4:1, 2:5, 3:3 – so lauten die letzten Liga-Heimergebnisse. Eishockey-Ergebnisse. Entertainment. No satisfaction. Klinsmann sagte, die Mannschaft befinde sich „in einer Neudefinierung“. Tatsache ist: Sie sind auf der Suche. Nach einer Linie, einer Struktur.
Wie Klinsmann. Ihm fehlt Konstanz. Buddhas her, Buddhas weg. Kapitän benannt, Kapitän wegrotiert. 3-5-2-System da, 3-5-2 weg. Kroos rein, Kroos weg. Breno drin, Breno wieder raus. Heimschlafen abschaffen, wieder zulassen. Ist das die wahre Rotation?
Patrick Strasser