Zwischenwahlen in den USA: "Ein Drittel befürwortet Gewalt"
AZ-Interview mit Josef Braml: Der promovierte Politologe ist USA-Experte und Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Denkfabrik Trilaterale Kommission. Sein neues Buch "Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können" ist bei C. H. Beck erschienen.
AZ: Herr Braml, der Ehemann der demokratischen Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi wurde von einem mutmaßlichen Trump-Anhänger mit einem Hammer krankenhausreif geprügelt - ein Angriff, der eigentlich seiner Frau galt. Präsident Joe Biden sieht ob der Gewalt das demokratische System der USA in Gefahr. Hat er recht?
JOSEF BRAML: Der Angriff auf Paul Pelosi könnte ein Menetekel für eine mögliche künftige Entwicklung in den USA sein. Präsident Biden sorgt sich zu Recht um die amerikanische Demokratie. Es ist vor allem auch sehr bedenklich, dass die Mehrheit der Wählerinnen und Wähler der Republikaner Trumps Lüge glaubt, dass Präsident Joe Biden nicht rechtmäßig gewählt wurde und dass etwa ein Drittel auch Gewalt zur Erreichung politischer Ziele befürwortet.
Haben Sie eine Vermutung, warum ausgerechnet Nancy Pelosi Opfer der Attacke werden sollte?
Die demokratische Sprecherin des Abgeordnetenhauses, die einen liberalen Wahlkreis der Stadt San Francisco repräsentiert, ist schon seit Längerem verbalen Hasstiraden, vor allem von rechtsextremen Demagogen ausgesetzt. Diese Verrohung der politischen Kultur in den USA kann durchaus dazu beigetragen haben, dass noch Verrücktere wie im Fall Pelosi zur Tat schreiten.
Die Befugnisse der Kammern
Morgen werden die Mitglieder des Repräsentantenhauses und etwa ein Drittel der Senatoren neu gewählt. Welche Befugnisse haben die beiden Kammern des Kongresses?
Die Legislative, also die 435 Repräsentanten des Abgeordnetenhauses und der 100-köpfige Senat, haben Möglichkeiten, die Exekutivgewalt des Präsidenten zu kontrollieren: Bei schweren Verfehlungen, sogenannten "high crimes and misdemeanors", kann der Senat - nach Aufnahme eines Verfahrens durch das Abgeordnetenhaus - sogar den Präsidenten seines Amtes durch ein Impeachment entheben. Völkerrechtlich bindende Vertragsunterzeichnungen des Präsidenten gelten erst, wenn sie vom Senat ratifiziert worden sind. Der Senat muss ferner präsidentiellen Personalernennungen für höhere Ämter wie Richter, Botschafter, Minister und weitere Spitzenbeamte zustimmen. Zwar kann der Präsident den Rat und die Zustimmung des Senats umgehen, indem er Kandidierende außerhalb der Sitzungsperiode ernennt. Doch deren Amtszeiten enden dann mit der jeweiligen Legislaturperiode, und sie bekommen bei ihrer Amtsausübung den Unmut der Senatorinnen und Senatoren zu spüren. Denn das wirksamste politische Kontrollmittel ist die Macht der Geldbörse, das heißt, der Kongress muss beziehungsweise darf die Haushaltsmittel insbesondere auch jene für Exekutivorgane bewilligen.
Welche Themen haben den Wahlkampf bestimmt?
Nachdem das Oberste Gericht - dank der von Trump nominierten drei Richter, darunter eine Richterin - das nationale Recht auf Abtreibung aufhob, schien es lange Zeit so, als ob eine starke Mobilisierung, vor allem von liberalen Frauen, den Republikanern bei den Kongresswahlen merklich schaden würde. Wegen kurzsichtiger Handlungen des amtierenden Präsidenten sind nunmehr jedoch erneut wirtschaftliche Themen in den Vordergrund gerückt und haben die sogenannten "moral issues" wieder in den Hintergrund geschoben. Ironischerweise spielt den Republikanern in die Hände, dass Bidens Fortführung von Trumps protektionistischer Wirtschaftspolitik die Inflation befeuert, die den Demokraten nun innenpolitisch auf die Füße zu fallen droht.
Was ist mit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine?
Der Ukraine-Krieg hat keinen direkten Einfluss auf die Kongresswahlen. Die eigenen, zumeist wirtschaftlichen Probleme liegen den Amerikanern näher als die Ukraine. Aber die von der Biden-Regierung forcierten Öl-Sanktionen haben einen indirekten Bumerang-Effekt auf die US-Wirtschaft. Die durch die Sanktionen erhöhten Ölpreise belasten auch die US-Bevölkerung, insbesondere über spürbar höhere Spritpreise, und befeuerten auch die Inflation.
Trumps Segen
Waren republikanische Kandidaturen ohne den Segen von Ex-Präsident Donald Trump eigentlich möglich?
Es ist bei den Republikanern zwar möglich, ohne Trumps Segen Vorwahlen oder Wahlen zu gewinnen, aber fast unmöglich, seinen Bannfluch politisch zu überleben. Bislang haben sich nur sehr wenige Republikaner getraut, Trumps demokratiegefährdendes Verhalten zu kritisieren. Nicht zuletzt auch aus Angst vor dem möglichen Zorn des unangefochtenen Parteiführers Trump, der Abtrünnigen - etwa der Abgeordneten Liz Cheney - den politischen Garaus gemacht hat.

Im Moment haben die Demokraten die Mehrheit in beiden Kammern. Mit welchem Ergebnis der Zwischenwahlen rechnen Sie?
Während die in den Vorwahlen von Trumps Gnaden "auserwählten" Kandidaten denn auch ins Abgeordnetenhaus gewählt werden und die Republikaner insgesamt das Repräsentantenhaus zurückerobern dürften, könnten indes Trumps Interventionen den Republikanern eine mögliche Mehrheit im Senat kosten. Anders als die durch sogenanntes "gerrymandering" auf homogene Wählerschaften zugeschnittenen Wahlkreise der Abgeordneten, in denen - auf beiden Seiten des politischen Spektrums - nur die extremen Kandidaten gewinnen, entscheidet bei den Wahlen zum Senat eine diversere Wählerschaft in den meisten Einzelstaaten sich zumeist für gemäßigtere Kandidaten in der politischen Mitte. Wenn jedoch die dank Trumps Unterstützung in den Vorwahlen siegreichen politischen Novizen - etwa J. D. Vance in Ohio, Herschel Walker in Georgia und Mehmet Oz in Pennsylvania - wider Erwarten doch in den Senat einzögen, dann würde sich die Machtkonstellationen im Kongress grundlegend zugunsten der Republikaner ändern.
Wenn Biden zur "lame duck" wird
Gingen beide Häuser an die Republikaner, wäre US-Präsident Biden zur Hälfte seiner Amtszeit eine "lame duck". Was hieße das konkret für seine Politik?
Sollte sich die Machtarithmetik im Kongress grundsätzlich ändern, also die Republikaner beide Kongress-Kammern für sich entscheiden, droht Präsident Biden umso mehr Handlungsunfähigkeit. Selbst wenn die Demokraten nur das Abgeordnetenhaus verlieren sollten, hätte US-Präsident Biden größere Schwierigkeiten, über den Gesetzesweg seine innenpolitischen Vorhaben umzusetzen. Insbesondere könnte Bidens Unfähigkeit, das Wahlrecht zu reformieren, sich als problematisch für die amerikanische Demokratie erweisen und seinem Herausforderer Trump bessere Chancen für eine zweite Amtszeit geben.
Was wäre bezüglich der Außenpolitik zu erwarten?
Auch hier würde vieles auf den Prüfstand gehoben, zuvorderst Amerikas Ukraine-Politik, zumal die Unterstützung Kiews mit amerikanischen Steuergeldern finanziert wird und damit von beiden Kongress-Kammern bewilligt werden muss. US-Regierungsbeamte bezweifeln, dass sie nach den Kongresswahlen im November große Hilfspakete für die Ukraine verabschieden können.
Was würde ein solcher Wahlausgang für Europa bedeuten?
Europa würde noch stärker in die Pflicht genommen, die immensen Herausforderungen in seiner unmittelbaren Nachbarschaft selbst zu bewältigen. Angesichts der absehbaren sozialen, wirtschaftlichen und innenpolitischen Probleme in den USA sowie der aus Washingtons Sicht größeren Bedrohung durch China dürfte sich Amerikas Aufmerksamkeit ohnehin verschieben. Die mögliche Blockade der Biden-Regierung, insbesondere ihre Handlungsunfähigkeit bei der Lösung dringender wirtschaftlicher und sozialer Probleme, dürfte ferner die Wiederkehr Donald Trumps ins Weiße Haus befördern. Selbst wenn er - wegen möglicher strafrechtlicher Verurteilungen - bei den Präsidentschaftswahlen 2024 nicht selbst kandidieren sollte, stünden Populisten nach Trumps Ebenbild wie Floridas Gouverneur Ron DeSantis in den Startlöchern. Andere republikanische Kandidaten könnten noch herausfordernder für Europa sein. Das sind keine guten Nachrichten für den Alten Kontinent, der seine Sicherheit in die Hände Washingtons gelegt hat.