Wenn Pflege krank macht
München. Rund zwei Millionen pflegebedürftige Menschen leben in Deutschland. 70 Prozent von ihnen werden zu Hause betreut – fast immer von Angehörigen. Doch ausgerechnet sie, die in der Pflege die Hauptlast tragen, zahlen ihr Engagement oft mit der eigenen Gesundheit. Etwa die Hälfte aller Pflegenden leidet an psychischen Problem. Das ist das erschreckende Ergebnis des Pflegereports 2015 der DAK-Gesundheit. Die zentralen Ergebnisse der Studie:
Wie steht es um die Gesundheit der pflegenden Angehörigen? Rund 20 Prozent von ihnen leiden unter einer Depression. Auch Angst- oder Schlafstörungen kommen gehäuft vor. Insgesamt leidet etwa die Hälfte aller Pflegepersonen in Deutschland an psychischen Problemen – deutlich mehr als nicht-pflegende Menschen.
Zwei Beispiele: Pflegende Angehörige werden um zehn Prozent häufiger wegen psychischer Leiden behandelt, als Menschen, die keinen Angehörigen betreuen. Bei Depressionen sind es acht Prozent mehr. „Das zeigt, wie viel Druck auf Menschen lastet, die neben Job und Familie noch die Pflege eines Angehörigen übernehmen“, sagt Herbert Rebscher, Chef der DAK-Gesundheit.
Sind sie auch körperlich stärker belastet? Ja. Jede sechste Pflegeperson musste 2014 wegen Muskel-Skelett-Erkrankungen wie Rückenschmerzen zum Arzt, bei nicht-pflegenden Personen hingegen war nur jeder Zehnte betroffen.
Wie schätzen die Pflegenden selbst ihre Situation ein? Laut der Forsa-Umfrage für die DAK schätzt mehr als jeder zweite Pflegende die eigene Belastung als „hoch“ oder „sehr hoch“ ein. Viele fühlen sich körperlich (50 Prozent), psychisch (68 Prozent) oder zeitlich (71 Prozent) von der Pflege überfordert.
Besonders belastet fühlen sich Angehörige, wenn die gepflegte Person dement ist. Bei jedem Dritten ist das der Fall.
Warum sind die pflegenden Angehörigen anfälliger für psychische und körperliche Krankheiten? „Viele verlieren durch die Pflege die eigenen Bedürfnisse aus den Augen“, erklärt Rebscher und fügt an: „Die Folge sind Überforderung und gesundheitliche Konsequenzen.“
In der Forsa-Umfrage gaben 55 Prozent der Befragten an, dass ihr Privatleben unter der Pflegetätigkeit leidet. 23 Prozent klagten über Nachteile für ihre berufliche Karriere. Bei jedem fünften Pflegenden hat sich deshalb das Verhältnis zum betroffenen Angehörigen verschlechtert. Viele vermissen vor allem Wertschätzung und Dankbarkeit, knapp jeder fünfte fühlt sich sogar ausgenutzt.
„Die Bereitschaft von Menschen, sich über einige Jahre alleine um die Pflege von Angehörigen zu kümmern, nimmt deshalb ab“, warnt Pflegewissenschaftler Thomas Klie.
Wer stemmt die häusliche Pflege? Aus dem DAK-Report geht hervor, dass mit rund 90 Prozent meist Frauen die Betreuung übernehmen. „Ohne sie würde das Pflegesystem zusammenbrechen. Nicht umsonst spricht man oft vom größten Pflegedienst Deutschlands“, betont DAK-Chef Rebscher.
Wie viele davon sind berufstätig? Ein Drittel, davon ein Fünftel in Vollzeit.
Wer wird gepflegt? Überwiegend sind es Menschen mit Pflegestufe Eins (knapp 50 Prozent). Doch auch die Stufen Zwei (30 Prozent) und Drei (zehn Prozent) sind mit ihrem intensiven Betreuungsbedarf in der häuslichen Pflege vertreten.
Zumeist ist die pflegebedürftige Person ein Elternteil (46 Prozent), die Großeltern (20 Prozent) oder Schwiegermutter bzw. Schwiegervater (11 Prozent). Nur selten werden Menschen gepflegt, mit denen man nicht verwandt ist.
Wo brauchen die Pflegebedürftigen Hilfe? Hauptsächlich bei der hauswirtschaftlichen Versorgung (89 Prozent) wie Kochen, Putzen oder Einkaufen sowie bei der Körperpflege (75 Prozent) und bei der Fortbewegung (68 Prozent). Beim Toilettengang und beim Essen waren jeweils die Hälfte der Pflegebedürftigen auf ihren Angehörigen angewiesen.
Wie lange dauert die Pflegetätigkeit? 39 Prozent der Pflegenden betreuen einen Angehörigen nicht länger als ein Jahr. Bei jedem fünften sind es unter zwei Jahre. Immerhin 13 Prozent sorgen sich fünf Jahre oder länger um einen Verwandten.
Wie wird sich die Pflegesituation entwickeln? Schätzungen zufolge fehlen in 30 Jahren in Deutschland 500 000 Pflegekräfte. Da sich die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2050 wohl auf etwa vier Millionen Menschen verdoppeln wird, wird sich die Lage noch dramatisch zuspitzen.
Was plant die Politik? Der Bundestag berät heute in erster Lesung den Gesetzentwurf von Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) zum sogenannten Zweiten Pflegestärkungsgesetz. Gröhe hatte den Entwurf zuletzt unter anderem bei der Renten- und Arbeitslosenversicherung zugunsten der Pflegenden nachgebessert.
Doch der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch beklagt, dass die Hilfsangebote kaum angenommen werden.
Etwa bei der Pflege- und Familienpflegezeit geht die Regierung davon aus, dass sich in den nächsten Jahren nur ein halbes Prozent aller 1,25 Millionen Pflegenden vom Job freistellen lassen wird – obwohl sie Anspruch darauf hätten.
Welche Hilfen gibt es noch? Die Pflegekassen bieten kostenlose Pflegekurse an, bei denen die richtigen Handgriffe erlernt werden können. Auch psychologische Hilfe kann in persönlichen Krisen in Anspruch genommen werden. Das Problem: Laut DKA-Pflegereport wissen nur zwei von drei Angehörigen von diesen Angeboten.
Warum wird die Hilfe nicht angenommen? Pflegewissenschaftler Klie vermutet, dass vielen Angehörigen die Zeit fehlt, sich im hektischen Alltag noch um regelmäßige Termine zu kümmern. Andere begreifen nach Klies Einschätzung die Betreuung als „Schicksal, wo ich durch muss“.
Für den DAK-Pflegereport wurden die Daten von 500 000 Versicherten ausgewertet. Zudem hat die Kasse Daten von 12 000 pflegenden Angehörigen mit denen einer nicht-pflegenden Gruppe verglichen und die häufigsten Krankheiten analysiert.
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