Urteil: Geld für Sextäter

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rügt die deutsche Sicherungsverwahrung. Einer der Kläger ist ein Täter aus Bayern. Das Gericht fordert hohe Entschädigungen.
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Hinter Schloss und Riegel: Wenn es nach dem neuen Urteil geht, dürfen viele Täter auf baldige Freilassung hoffen.
dapd Hinter Schloss und Riegel: Wenn es nach dem neuen Urteil geht, dürfen viele Täter auf baldige Freilassung hoffen.

STRASBOURG / BAYREUTH - Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte rügt die deutsche Sicherungsverwahrung. Einer der Kläger ist ein Täter aus Bayern. Das Gericht fordert hohe Entschädigungen.

Gewonnen und doch verloren: Albert H. (76) darf sich über das Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) freuen. Der entschied gestern, dass die gegen den 76-Jährigen und drei weitere Sex-Täter von deutschen Gerichten verhängte nachträgliche Sicherungsverwahrung gegen die Menschenrechte verstoße. Frei kommt er deshalb aber noch lange nicht.

Das stellte Justizministerin Beate Merk gestern klar: „Es besteht kein Grund zur Beunruhigung: Gegenstand des heute entschiedenen Verfahrens war eine Unterbringungsanordnung aus dem Jahr 2002. Diese Anordnung ist zwischenzeitlich überholt. Der Beschwerdeführer ist derzeit in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Daran ändert auch die heutige Entscheidung nichts.“

Der Grund: Albert H. hatte nach Verbüßung seiner Haftstrafe im Jahre 2002 in offener Bewährung im Seniorenheim demente Frauen sexuell missbraucht. Das Landgericht Hof verurteilte den Sex-Täter 2007 zur Unterbringung in der Psychiatrie.

Bayerns Justizministerin mit dem Straßburger Urteil nicht glücklich

Doch in den Fällen der drei anderen Beschwerdeführer sieht das anders aus. Einer von ihnen ist seit September 2010 auf freiem Fuß. Er lebt in Freiburg. Die beiden anderen in Aachen einsitzenden Männer können jetzt hoffen, ebenfalls bald frei zu kommen.

Dazu müssen sie nun einen Antrag beim Aachener Landgericht stellen. Gegen dessen Urteil kann dann Beschwerde beim Oberlandesgericht (OLG) Köln eingelegt werden. Das kann ein halbes Jahr dauern.

Alle drei Sex-Täter haben nach Ansicht der Straßburger Richter auch Anspruch auf eine Entschädigung (25000bis 70000 Euro). Albert H. geht auch hier leer aus, weil einen dementsprechenden Antrag nie gestellt hat.

In einem ähnlich gelagerten Fall führte ein EGMR-Urteil bereits einmal in die Freiheit: Ein 54-jähriger Räuber, der im hessischen Schwalmstadt in Sicherungsverwahrung saß, bekam in Straßburg 2009 Recht. Die hessischen Gerichte schlossen sich dem Urteil an. Der Mann steht allerdings weiter unter Führungsaufsicht.

Das Straßburger Urteil dürfte auch für andere Verfahren richtungsweisend sein. In Deutschland gibt es rund 20 Straftäter, gegen die ähnlich wie bei Albert H. nachträglich Sicherungsverwahrung angeordnet wurde. Allein in Bayern gibt es zehn betroffene Straftäter. Zwei davon klagen derzeit in Straßburg, ein weiterer Fall beschäftigt am 8. Februar das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Der zur Tatzeit jugendliche Mörder einer Joggerin hat gegen seine nachträgliche angeordnete Verwahrung geklagt.

Bayerns Justizministerin ist mit dem Straßburger Urteil nicht glücklich: „Wenn bei einer Entscheidung alleine die Freiheitsrechten eines Straftäters zählen und die Sicherheit der Bevölkerung keine Rolle spielt, ist das für mich persönlich nicht akzeptabel.“

John Schneider

Sicherheit für die Gesellschaft oder Rechtssicherheit für die Täter?

Sicherungsverwahrung bedeutet die Möglichkeit, einen Straftäter wegen seiner besonderen Gefährlichkeit für die Allgemeinheit über das Ende seiner Strafhaft hinaus in Haft zu behalten. Das geht aufgrund entsprechender Anordnung im Gerichtsurteil und ist in diesem Fall auch beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unproblematisch. Problematisch ist aus Sicht der EuropäischeRichter die mangelnde Rechtssicherheit für Straftäter, wenn ihnen die Sicherungsverwahrung noch nachträglich aufgebrummt wird, weil sich die besondere Gefährlichkeit erst während der Haft herausgestellt hat. Dann soll die Sicherungsverwahrung aufgrund von Gutachten und Prognosen auch noch im Nachhinein angeordnet werden können.

Die nachträgliche Sicherungsverwahrung wurde 2004 zunächst für nach Erwachsenenstrafrecht verurteilte Täter, seit 2008 auch für Jugendliche und nach Jugendstrafrecht verurteilte Heranwachsende eingeführt. Zuletzt war am Landgericht München ein Antrag auf nachträgliche Sicherungsverwahrung eines Täters gescheitert.

Der Grund: Die Staatsanwaltschaft konnte die Richter nicht davon überzeugen, dass neue Tatsachen in der Haft eine Sicherungsverwahrung rechtfertigen.

Berlin hat die Straßburger Entscheidung nicht überrascht. „Der Gesetzgeber hat diese bedauerliche Entwicklung im Rahmen der Neuordnung der Sicherungsverwahrung durch die am 1.1.2011 in Kraft getretenen Regelungen aber bereits berücksichtigt“, erklärt Andrea Voßhoff, die rechtspolitische Sprecherin von CDU/CSU. „Für Neufälle mit Tatzeit ab dem 1.1.2011 ist die nachträgliche Sicherungsverwahrung bereits abgeschafft.“

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