Ukraine-Krieg: "Neutraler Status" als Ausweg aus der Krise?
Von einem schnellen Sieg kann keine Rede sein. Die Ukrainer wehren sich heroisch gegen die russischen Angreifer - und die Verluste der Invasoren sind hoch, auch wenn sie das nur ungern zugeben. Der Plan von Kremlchef Wladimir Putin, Kiew in einer Blitzaktion in die Knie zu zwingen, entpuppt sich als Fehlschlag - und in der Folge wächst der Druck auf den russischen Staatschef. Eine Entwicklung, die womöglich Grund zur Hoffnung ist.
"Es kommen jetzt so viele junge russische Soldaten aus einem Bruderkrieg in Särgen zurück, dass der Unmut nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in der Elite größer wird", sagt der Militärexperte Wolfgang Richter von der "Stiftung Wissenschaft und Politik".

Richter: "Russland muss jetzt zu Kompromissen bereit sein"
Die Hälfte der russischen Bodentruppen sei bereits im Einsatz, es droht ein blutiger Städtekampf mit vielen Toten auf beiden Seiten. Zudem machen die Sanktionen der Wirtschaft zunehmend zu schaffen.
"Russland muss jetzt zu Kompromissen bereit sein", sagt Richter deshalb. "Die Maximalforderungen aus Putins Rede, die er kurz vor Kriegsbeginn gehalten hat, werden sich nicht mehr erfüllen." Die Wiedererrichtung eines zaristischen Russlands mit voller Kontrolle über die Ukraine sei faktisch nicht machbar, das hätten die gemäßigten Kräfte in der russischen Regierung erkannt. Die Erwartung, dass die Ukraine schnell zu besiegen sei, habe sich als falsch erwiesen. "Die russischen Truppen sind nicht als Befreier von den Ukrainern mit Brot und Salz in Empfang genommen worden", sagt der Oberst a.D. Das verschaffe Realpolitikern im Land Aufwind.
Ukraine ist bereit, über neutralen Status zu verhandeln
Dazu passt die überraschende Einlassung von Außenamtssprecherin Maria Sacharowa, dass Moskau weder einen Machtwechsel in Kiew noch die Besetzung der Ukraine anstrebe. Doch nach Ansicht des Experten muss sich auch die Ukraine bewegen - und tut es bereits: Kiew beharrt nicht länger auf einer Mitgliedschaft in der Nato und zeigt sich bereit, über einen neutralen Status zu verhandeln. Allerdings sind daran Bedingungen geknüpft: ein Waffenstillstand, der Rückzug der russischen Truppen und Sicherheitsgarantien.
Ist es vorstellbar, dass Moskau darauf eingeht? "Einen Waffenstillstand halte ich für denkbar, sofern zugleich Friedensgespräche eingeleitet werden. Einem Truppenrückzug dürfte Moskau aber nur dann zustimmen, wenn Kiew Zugeständnisse macht, die jetzt als sehr bitter empfunden werden: Verzicht auf den Nato-Beitritt und de facto Anerkennung der Unabhängigkeit des Donbass und der russischen Kontrolle über die Krim", sagt Richter, der glaubt, dass sich an den letztgenannten Punkten sowieso nicht mehr rütteln lässt. Entscheidend seien daher kluge diplomatische Formulierungen, die es beiden Seiten ermöglichten, das Gesicht zu wahren.
Richter: Russland strebt Erweiterung an
Sollten Beitrittsverzicht und Neutralität nun den Weg aus der Krise weisen, stellt sich allerdings eine weitere Frage: Wäre der Krieg zu verhindern gewesen, wenn sich die Ukraine schon vorher dazu bereit erklärt hätte? "Aus den russischen Vertragsentwürfen vom 17. Dezember 2021 ging hervor, dass Russland eine erneute Nato-Erweiterung in den post-sowjetischen Raum und die Stationierung von Truppen und Raketen in der Nähe der russischen Grenzen verhindern wollte", sagt Richter. "Putins emotional und historisch gefärbtes Narrativ ging aber erheblich weiter: Er wollte verhindern, dass Teile des russischen Volkes in die westliche Militärplanung gegen das Heimatland einbezogen werden. Letztlich strebte er an, Russland um Gebiete zu erweitern, die zur Zarenzeit zum russischen Reich gehörten. Den Verhandlungsspielraum hinsichtlich der Sicherheitsfragen hat er nicht genutzt. Das hat auch russische Experten überrascht." Nun müssten beide Seiten Kompromisse machen, um Schlimmeres zu verhindern.