"Steht nicht kurz vor dem Kollaps": Sozialverbandschefin übt heftige Kritik an Rentendebatte
Das Rentensystem ist chronisch unterfinanziert und steht vor dem Zusammenbruch? Stimmt nicht, sagt die Vorstandsvorsitzende des Sozialverbands Deutschland im AZ-Interview: Man müsse mehr auf die Lebensrealität der Menschen achten. Und die fängt schon lange vor der Rente an: Da sollte angesetzt werden, fordert die Sozialexpertin.
Michaela Engelmeiersaß von 2013 bis 2017 für die SPD im Deutschen Bundestag und war dort unter anderem sportpolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion im Sportausschuss sowie Mitglied im SPD-Fraktionsvorstand.

AZ: Frau Engelmeier, wie sollte die gesetzliche Rente finanziert werden?
MICHAELA ENGELMEIER: Die gesetzliche Rentenversicherung ist das stabilste Fundament unserer Alterssicherung. Sie muss langfristig gestärkt werden – finanziell, strukturell und gesellschaftlich. Das geht nur mit einer solidarischen Finanzierung und einer Stärkung der Einkommensseite. Wir fordern eine Erwerbstätigenversicherung, in die alle einzahlen: auch Beamte, Selbstständige und Abgeordnete. Zusätzlich müssen versicherungsfremde Leistungen künftig konsequent aus Steuermitteln finanziert werden. Parallel dazu braucht es eine gerechte Steuerpolitik: Spitzenverdiener, große Erbschaften und hohe Vermögen müssen stärker zur Finanzierung des Sozialstaats beitragen. Nur wenn alle ihren fairen Beitrag leisten, bleibt die Rente generationengerecht und verlässlich.
"Es geht nicht darum, ob wir uns eine gute Rente leisten können "
Was ist der größte Denkfehler in Bezug auf die Rente?
Der größte Irrtum ist die Annahme, das gesetzliche Rentensystem sei nicht mehr finanzierbar und würde kurz vor dem Kollaps stehen. Natürlich stellt uns die demografische Entwicklung vor Herausforderungen, aber es sind vor allem politische Entscheidungen, die hier für Zukunftsfähigkeit sorgen können und müssen. Wer das Rentenniveau senkt oder die Lebensarbeitszeit weiter erhöhen will, ignoriert die Lebensrealität vieler Menschen. Denn schon heute erreichen viele nicht gesund das reguläre Rentenalter. Wer wirklich Altersarmut bekämpfen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken will, muss auf gute Löhne, stabile Rentenniveaus und soziale Gerechtigkeit setzen. Denn wenn die Leistungen sinken, werden die Menschen privat vorsorgen müssen oder auf die Grundsicherung angewiesen sein. Es geht also nicht darum, ob wir uns eine gute Rente leisten können - sondern wie wir sie gerecht finanzieren und welches System.
Auch inländische Potenziale besser nutzen
Immer wieder heißt es, wir bräuchten 400.000 Fachkräfte aus dem Ausland pro Jahr - die kommen aber nicht. Was tun? Oder setzen wir mit der Zuwanderung aufs falsche Pferd, gibt es Alternativen?
Zuwanderung ist kein Irrweg, sondern ein notwendiger Teil der Lösung - wenn sie gut organisiert ist. Wir brauchen ein echtes Willkommensklima, das Bürokratie abbaut, Qualifikationen schnell anerkennt. Gleichzeitig müssen aber auch alle inländischen Potenziale besser genutzt werden. Noch immer sind zu viele Menschen in prekären Jobs, Minijobs oder unfreiwilliger Teilzeit beschäftigt. Und über 200.000 gut qualifizierte Menschen mit Behinderungen sind arbeitslos, obwohl sie dringend gebraucht würden. Wer den Fachkräftemangel lösen will, muss Beschäftigung inklusiver, familienfreundlicher und sozial gerechter machen - und das gelingt nur mit verlässlichen Arbeitsbedingungen und fairer Bezahlung.

Was darf auf keinen Fall passieren, damit in Deutschland keine Welle der Altersarmut droht?
Es darf keine weiteren Einschnitte bei der gesetzlichen Rente geben. Jede Absenkung des Rentenniveaus oder Erhöhung der Regelaltersgrenze ist ein direkter Angriff auf die Lebensleistung vieler Menschen und damit eine Rentenkürzung durch die Hintertür. Entscheidend ist, dass die Rente wieder ihren zentralen Zweck erfüllt: den Lebensstandard im Alter zu sichern. Dazu braucht es ein höheres Rentenniveau, gerechte Löhne, mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und eine bessere Absicherung von Zeiten der Erziehung, Pflege und Arbeitslosigkeit. Wer jahrzehntelang gearbeitet oder Angehörige gepflegt hat, darf im Alter nicht auf ergänzende Sozialleistungen angewiesen sein. Altersarmut lässt sich nur verhindern, wenn die gesetzliche Rente wieder in den Mittelpunkt der Alterssicherung gerückt wird.
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