Ralf Fücks: "Die Grünen hatten schon bessere Zeiten"
Berlin - Der 65-Jährige Ralf Fücks ist Chef der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung und seit 1982 Mitglied der Öko-Partei.
AZ: Herr Fücks, im Saarland sind die Grünen an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert, zuvor flogen sie schon in Mecklenburg-Vorpommern aus dem Landtag. Nur Ausrutscher oder ein klassischer Fehlstart ins Wahljahr 2017?
RALF FÜCKS: Die Grünen hatten sicher schon bessere Zeiten, trotzdem sind diese beiden Länder nicht repräsentativ. Bundesweit sind die Grünen inzwischen eine feste Größe in der Parteienlandschaft. Unbestritten wird es allerdings höchste Zeit, in die Offensive zu gehen und klar zu machen, wofür Grün steht.
Die Grünen liegen in Umfragen nur noch bei sechs Prozent. Was sind die Gründe für die schwindende Zustimmung?
Zum einen haben die Grünen ihr Alleinstellungsmerkmal für Themen wie Atomausstieg oder die Gleichstellungspolitik verloren, die inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen sind. Zum anderen erleben wir gerade eine Polarisierung zwischen Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihrem Herausforderer Martin Schulz mit der Folge, dass sich ein Teil der rot-grünen Wechselwähler eher an der SPD orientiert. Und zum Dritten ist derzeit noch nicht klar erkennbar, was die zentralen politischen Botschaften der Grünen in diesem Wahlkampf sind.
Der Schulz-Effekt hat alle Parteien überrascht. Im Falle der Grünen kommt erschwerend hinzu, dass Schulz abgewanderte SPD-Wähler von den Grünen wieder zu seiner Partei zurückholt. Wie können die Grünen darauf antworten?
Die Grünen müssen ihre Wähler aus ganz unterschiedlichen politischen Himmelsrichtungen gewinnen. Es bringt nichts, nur mit der SPD um den gleichen Wählerstamm zu ringen. Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein zeigen, dass Grüne ein breites Spektrum von Wählerinnen und Wählern an sich binden können, wenn Personal und Programmatik passen. Ich bin optimistisch, weil die Grünen ein ganzes Arsenal an politischen Ideen haben, die noch lange nicht ausgedient haben.
Und die wären?
Das geht von der Energiewende über den ökologischen Umbau des Verkehrssystems bis hin zu einer Bildungsoffensive oder einem modernen Einwanderungsgesetz. Jetzt muss es gelingen, diese Themen nach vorne zu bringen.
Dringen die Grünen mit ihren Themen überhaupt durch? Die Union kämpft für Innere Sicherheit, die SPD für soziale Gerechtigkeit, im Vergleich dazu wirken die grünen Themen nachrangig.
Das sind sie aber nicht. Die ökologische Erneuerung der Industriegesellschaft, die grüne industrielle Revolution, ist hochaktuell – nicht nur als Antwort auf den Klimawandel, sondern als wirtschaftliches Zukunftsprojekt. Für die Autoindustrie ist das eine Überlebensfrage. Die Grünen sind die Partei der Bürgerrechte, wissen aber auch um die Bedeutung der öffentlichen Sicherheit, damit Menschen angstfrei leben können. Und sie sehen Zuwanderung als Gestaltungsaufgabe statt als Bedrohung, gegen die wir uns abschotten sollten.
Dabei stellt sich die unvermeidliche Frage nach dem Führungspersonal: Katrin Göring-Eckardt und Cem Özdemir haben die Urwahl gewonnen. Sind sie die Richtigen, um die Wähler zu mobilisieren?
Beide gehören zu den politisch erfahrensten Persönlichkeiten der Grünen. Sie decken unterschiedliche Themen ab und müssen sich nicht hinter dem Spitzenpersonal der anderen Parteien verstecken. Winfried Kretschmann ist derzeit einer der beliebtesten Politiker Deutschlands und hat die Grünen in Baden-Württemberg zur stärksten Partei gemacht.
Was können die Grünen im Bund von ihm lernen – oder ist er nur deswegen so erfolgreich, weil er keine grüne Politik macht?
Das muss ich entschieden dementieren. Im Gegenteil, seine große Leistung ist, dass er es verstanden hat, grüne Politik mehrheitsfähig zu machen. Die Kombination aus einer klaren Wertorientierung und einem nüchternen Pragmatismus mit einem Blick für das Machbare, seine Bereitschaft zum Dialog und zum Zuhören sind sein Erfolgsrezept.
Soll Kretschmann eine wichtige Rolle im Bundestagswahlkampf spielen?
Das wird er ohnehin tun, weil er gefragt ist.
Klimaschutz, gesunde Ernährung, ökologische Landwirtschaft – vieles, was die Grünen einst gefordert haben, ist heute Konsens in der Gesellschaft. Sind die Grünen Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden?
Die historische Mission der Grünen ist noch lange nicht vorbei. Wir stehen erst ganz am Anfang des ökologischen Umbaus unserer Wirtschaftsweise, erst am Einstieg der Energiewende, am Anfang der Verkehrswende. Zu zeigen, dass eine umweltfreundliche Gesellschaft gleichzeitig wirtschaftlich erfolgreich sein kann, ist unverändert die Kernaufgabe der Grünen.
Hat sich der Zeitgeist gedreht? Wird eine Gesellschaft wieder konservativer, nationaler, die mehr Innere Sicherheit und soziale Gerechtigkeit will?
Ich habe dazu gerade ein Buch mit dem Titel "Freiheit verteidigen" geschrieben. Es gibt etwas zu verteidigen, sowohl gegen autoritäre Mächte wie China, Russland, den Iran oder die Türkei, die immer selbstbewusster auftreten und sich als Gegenmodell zur liberalen Demokratie verstehen, als auch gegen Kräfte in der eigenen Gesellschaft, die mehr Abschottung und weniger Vielfalt wollen. Der Brexit wie die Wahl Trumps waren ein Weckruf an die liberalen Gesellschaften – es ist Zeit für ein klares: "So nicht!" Es reicht aber nicht, den Status quo zu verteidigen.
Sondern?
Wir müssen Antworten auf die großen Herausforderungen geben, die bei den Menschen Verunsicherung hervorrufen. Wir müssen die Frage neu beantworten, wie man Sicherheit im Wandel schaffen kann, ohne die Illusion zu erzeugen, wir könnten uns von diesem Wandel abschirmen, wie es AfD, Le Pen und Co. tun.
Welche Rolle spielen dabei die Grünen?
Sie werden gebraucht als Partei, die unkonventionelle Ideen für die Zukunft entwickelt. Das ist ihre größte Begabung. Wenn heute in Umfragen viele Leute sagen, die Grünen seien bieder und langweilig geworden, wird es Zeit, dass die Grünen ihre ideelle Kraft wieder entdecken und die Zukunft neu denken.
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