Professor über Putins Nazi-Lüge: "Antisemiten wählen keinen Juden"
AZ-Interview mit Michael Wolffsohn: Der Historiker wurde am 17. Mai 1947 in Tel Aviv als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie geboren. Nach dem Studium in Berlin, Tel Aviv und New York lehrte er von 1981 bis 2012 als Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr in München-Neubiberg.
AZ: Herr Wolffsohn, in Ihrem neuen Buch "Eine andere Jüdische Weltgeschichte" kommen auch die Ukraine und ihr Präsident Selenskyj vor. Was haben sie mit der jüdischen Weltgeschichte zu tun?
Wolffsohn: Sehr viel. Bis zum sechsmillionenfachen Judenmord, dem "Holocaust", lebten in der Ukraine 2,7 Millionen Juden. 1,2 bis 1,6 Millionen Juden wurden allein dort ermordet. Dabei war der Tod "ein Meister aus Deutschland", fand aber viele willige Gesellen und Helfer unter Ukrainern. Schon seit dem 17.Jahrhundert gab es dort schreckliche Pogrome. Die ukrainische Gesellschaft war traditionell extrem antisemitisch. War, sage ich, denn: Im Mai 2019 wurde der ukrainische Jude Selenskyj mit 73 Prozent zum Präsidenten gewählt. Antisemiten wählen keinen Juden, schon gar nicht mit so überwältigender Mehrheit.

Ist ein Fünkchen Wahrheit dabei, wenn Kreml-Chef Putin von Entnazifizierung der Ukraine redet?
Antisemiten gibt es überall, aber einen jüdischen Staats- oder Regierungschef außer in der Ukraine und Israel derzeit nirgends. Nur in Israel ist der Antisemitismus eine innerjüdische Angelegenheit.
"In jedem Rechtsstaat gilt gleiches Recht für alle"
Unter den russischen Oligarchen, die jetzt Sanktionen unterliegen, sind auch Juden. Sollte man sie anders behandeln? Wie sollte Israel reagieren, wenn sie ihre Yachten in Tel Aviv festmachen?
In jedem Rechtsstaat muss gelten: gleiches Recht für alle. Israel ist ein Rechtsstaat. Wenn also jüdische Oligarchen oder andere Kriminelle aus dem Ausland in Israel ankern oder landen und ein internationaler Haftbefehl besteht, sollen - und werden - sie nach Recht und Gesetz behandelt, also ihrer Strafe zugeführt.
Es werden derzeit viele Parallelen zwischen der aggressiven Expansion von Nazideutschland und dem Angriff auf die Ukraine gezogen. Inwieweit ist das zulässig oder zutreffend?
Die Meinungsfreiheit ist grundgesetzlich geschützt, also erlaubt und zulässig. Aber Meinung und Tatsachen sind oft nicht identisch. Wer von Geschichte wenig weiß, wundere sich nicht, wenn die eigene Meinung nicht die Tatsachen trifft. Vergleiche sind immer heikel, selbst von Fachleuten. Putins Angriff auf die Ukraine ist massenmörderisch und unentschuldbar, aber nicht jeder Massenmord ist Völkermord, gar ein Holocaust. Die Gleichsetzung Hitler-Putin ist nichts anderes als der Wunsch, Hitlers Verbrechen zu relativieren. Das ändert nichts an der Tatsache, dass Putins Krieg ein Verbrechen ist.
"Aus Lügen werden keine Tatsachen"
In Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg wird auch von "Völkermord" gesprochen. Darf man das oder ist das eine Verniedlichung des Holocausts?
Nochmals: Man darf. Gesetzlich. In Demokratien. Unsinn, Dummheit, Bosheit und sogar Lügen sind erlaubt. Doch aus Lügen werden keine Tatsachen, nur weil sie gesetzlich erlaubt sind.
In einem Interview haben Sie gesagt, wenn Sie jünger wären, würden Sie auswandern. Liegt das am Antisemitismus in Deutschland beziehungsweise Europa?
Natürlich. Welchen Grund gäbe es für mich als jüdischen Deutschen sonst? Anders als amtlich und medial meistens behauptet, gefährdet aber nicht "nur" der rechte Antisemitismus uns Juden, sondern die Allianz von Islamisten mit Linken und Linksliberalen. Letztere sind subjektiv keine Antisemiten, aber sie fördern objektiv deren Unwesen als "nützliche Idioten".

"Die Offenheit für Gewalt gegen Juden hat zugenommen"
Das Bundesinnenministerium hat kürzlich festgestellt, dass die Zahl der antisemitischen Straftaten in Deutschland im vergangenen Jahr gegenüber 2020 um 30 Prozent angestiegen ist. Wird Deutschland antisemitischer oder nur sensibler gegenüber solchen Akten?
Der Anteil der Antisemiten ist seit Jahren ungefähr gleich. Das beweisen Zeitraum- und nicht Zeitpunkt-Umfrageanalysen. Ich verweise vor allem auf die vorzüglichen Daten des Instituts für Demoskopie Allensbach. Aber die Offenheit verbaler und körperlicher Gewalt gegen Juden hat zugenommen. Die Quellen? Siehe oben. Die jüngste Allensbach-Umfrage zeigt einmal mehr, dass in Deutschland, wie übrigens überall in Europa, Antisemitismen bei Muslimen deutlich häufiger als bei Nicht-Muslimen zu finden sind. Hier muss die Integrationspolitik noch viel nachholen.
Die deutsche Politik bekennt sich immer öfter zum Judentum in Deutschland und zu dessen Schutz. Gerade hat die bayerische Staatsregierung ein Konzept "Jüdisches Leben und Bekämpfung des Antisemitismus" auf den Weg gebracht. Meinen Sie, das ist alles abgehoben und im Volk läuft es in eine ganz andere Richtung?
Wort und Tat sind leider nicht identisch. Nicht nur in Bayern. Die ständige Wiederholung des "Nie wieder!" reicht nicht. Defizite gibt es nicht nur in der Politik, sondern auch in der Justiz und bei vielen Medien, die sich scheuen, die Täter zu benennen, besonders, wenn sie ausländischer Herkunft sind. Das ist gut gemeint und ehrenhaft, erreicht aber das Gegenteil: eben nicht Toleranz, sondern Motivation zu mehr Intoleranz, Hass und Verbrechen.
"Viele Juden, mehr als zuvor, erwägen auszuwandern"
Sie haben das Ende des Judentums in Europa prognostiziert. Die Zahl der Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland soll aber immerhin 95000 betragen.
Aus Frankreich sind seit dem Jahr 2000 knapp 20 Prozent der Juden nach Israel ausgewandert. Wegen der Antisemitismen, inklusive vieler Judenmorde. Die erwähnten 95.000 sind irreführend. Diese Zahl bezieht sich auf Juden, die Mitglieder einer Gemeinde sind. Die tatsächliche Zahl ist sogar circa doppelt so groß. Das scheint gegen meine Prognose zu sprechen. Aber als Folge der gewachsenen verbalen und körperlichen Gewalt gegen uns, erwägen viele Juden, mehr als zuvor, auszuwandern. Vor allem junge, hoch qualifizierte Juden.
Wohin auswandern?
Sie denken an Israel als Alternative, denn dort ist die Lebensqualität inzwischen vorzüglich. 2021 ist die Wirtschaft um acht Prozent gewachsen, die höchst innovative israelische Wissenschaft ist Weltspitze, und man kann dort heute sogar richtig gut essen. Wie ich auch in meinem Buch zeige: Wer Juden vertreibt oder vernichtet, schadet nicht "nur" den Juden, sondern auch sich selbst.
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