Notlage in der Asylpolitik? Der Streit über eine EU-Klausel

Wer an der Grenze um Asyl nachsuchte, konnte über Jahre nach Deutschland einreisen. Nun darf die Bundespolizei auch Asylbewerber zurückweisen. Muss dazu eine Notlage nach EU-Recht erklärt werden?
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Die deutschen Grenzen werden nach Anweisung des Bundesinnenministers stärker kontrolliert.
Die deutschen Grenzen werden nach Anweisung des Bundesinnenministers stärker kontrolliert. © Marcus Golejewski/dpa
Berlin

Herrscht wegen des Zuzugs von Migranten eine "nationale Notlage" – also eine Art Ausnahmezustand, der Zurückweisungen von Asylbewerbern an den deutschen Grenzen rechtfertigt? Die "Welt" meldete, Kanzler Friedrich Merz habe eine solche Notlage ausgerufen, und zwar nach Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union. Das wurde aber schnell dementiert. "Es hat niemand in der Bundesregierung, auch ich persönlich nicht, eine Notlage ausgerufen", sagte Merz in Brüssel.

Worum geht es? Nach den EU-Bestimmungen der Dublin-Verordnung darf die Bundespolizei Asylbewerber nicht einfach an der Grenze zurückweisen. Vielmehr müssen die deutschen Behörden ein kompliziertes und in der Praxis oft schlecht funktionierendes Verfahren in Gang setzen, um sie an den zuständigen EU-Staat zu überstellen – also dorthin, wo sie in die EU eingereist sind. 

Artikel 72 AEUV enthält allerdings eine Art Notlagenklausel. Danach sind den Nationalstaaten Zurückweisungen an den Grenzen ausnahmsweise gestattet, wenn dies für "die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit" erforderlich ist. Merz selbst hatte Ende August auf diese Bestimmung und die Möglichkeit verwiesen, eine "nationale Notlage" in puncto Migration zu erklären.

Rechtsprofessor: "Notlage klingt nach Staatskollaps" 

Wann die Klausel greift, ist nicht klar definiert. Der Konstanzer Rechtsprofessor und Migrationsexperte Daniel Thym findet die Debatte "spannend" und empfiehlt, nicht von "Notlage" zu sprechen, sondern von einer "Ausnahme". Auf X schreibt er: "Notlage klingt nach Staatskollaps und Polizei auf den Straßen. Das fordert Art. 72 AEUV aber überhaupt nicht. Anforderungen sind niedriger!" 

Und Thym betont im Podcast "Ronzheimer", es sei rechtlich gar nicht notwendig, dass der Bundeskanzler dazu eine offizielle Erklärung abgibt oder irgendetwas ausruft. Zu den Zurückweisungen von Asylbewerbern, die Innenminister Alexander Dobrindt (CSU) nun ermöglicht, sagt er: "Das macht man einfach. Und wenn dann jemand dagegen klagt, dann muss man vor Gericht." Dort komme dann die rechtliche Begründung auf den Prüfstand.

Ob Gerichte künftigen Klagen zurückgewiesener Migranten stattgeben, ist laut Thym offen. "Sehr gut" sei, dass "vulnerable Gruppen" wie Schwangere, Kinder und Kranke ausgenommen werden sollen. Das mindere das Prozessrisiko, dass die Gerichte sofort Nein sagten.

Auch der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hält Zurückweisungen von Asylbewerbern für rechtens, wie er der "Neuen Osnabrücker Zeitung" sagte. "Es gehört aus meiner Sicht zum unverzichtbaren Souveränitätsrecht eines Staates, nicht jede Person einreisen zu lassen, die das Wort "Asyl" sagt." Dem trage auch das EU-Vertragsrecht Rechnung. "Ich selbst habe die Zurückweisungen schon seit Jahren verlangt. Es ist nach deutschem Recht möglich und richtig – wie auch nach europäischem Recht."

Botschafter wurden vorab ins Bild gesetzt 

Die "Welt" hatte berichtet, über die Aktivierung der Ausnahmeklausel habe das Bundesinnenministerium auch die Botschafter der deutschen Nachbarstaaten unterrichtet. Das Ministerium bestätigte auf X zwar, dass die Botschafter eingeladen waren. Dies sei aber geschehen, um sie über die Intensivierung der bestehenden Binnengrenzkontrollen zu informieren.

Nach dpa-Informationen gibt es Hinweise dafür, dass bei der Entscheidung Dobrindts zum Vorgehen an den Grenzen der Artikel 72 durchaus eine Rolle gespielt hat. Demnach soll ein Innen-Staatssekretär Vertreter der Anrainerstaaten und der EU über die neue Lage in Kenntnis gesetzt und dabei auch auf den Artikel im EU-Recht verwiesen haben.

Experten zufolge geht es bei den Zurückweisungen und den verstärkten Kontrollen auch darum, Signale zu senden: Migranten sollen wissen, dass sie möglicherweise zurückgewiesen werden. Und die EU-Nachbarn sollen motiviert werden, ihre Durchreise Richtung Deutschland zu stoppen. Dobrindt sagte zu seinen Zielen abends bei "Maybrit Illner" im ZDF, er sage nicht, dass mit dieser Maßnahme im Hau-Ruck-Verfahren alles ändere. "Nein, das wird es nicht. Es ist ein Element dafür, die illegale Migration zurückzudrängen."

Hinweis: Diese Meldung ist Teil eines automatisierten Angebots der nach strengen journalistischen Regeln arbeitenden Deutschen Presse-Agentur (dpa). Sie wird von der AZ-Onlineredaktion nicht bearbeitet oder geprüft. Fragen und Hinweise bitte an feedback@az-muenchen.de

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