Kinder ins Gefängnis? Bayerns Justizminister will Absenkung der Strafmündigkeit "ernsthaft diskutieren"

München/Berlin – Zwei Mädchen erstechen die 12-jährige Luisa in Freudenberg. Ein Junge in Wunsiedel erwürgt eine Zehnjährige in einem Kinderheim - nachdem sie von einem Erwachsenen vergewaltigt worden war. Allem Anschein nach hat er den Jungen dazu angestiftet.
Sowohl die Täterinnen als auch der Täter bleiben straffrei, kommen noch nicht einmal vor Gericht. Denn sie sind noch keine 14 Jahre alt. So alt muss man in Deutschland sein, um als strafmündig zu gelten.
Eisenreich stößt Debatte an
Ob das so seine Richtigkeit hat, stellt nun Bayerns Justizminister Georg Eisenreich (CSU) infrage. "Aus meiner Sicht müssen wir daher ernsthaft eine Absenkung der Strafmündigkeit diskutieren", sagt Eisenreich der AZ.
Expertin aus München: "Nichts Neues"
"Das Thema Fremdgefährlichkeit kommt durchaus immer wieder mal vor", sagt Antje Schmidts vom kbo-Heckscher-Klinikum in Giesing. Sie ist Leitende Oberärztin und Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie in der Institutsambulanz mit 76 stationären Betten und 36 Tagesklinik-Plätzen.
Schmidts könne sich jedoch nicht erinnern, dass ein Kind, das in ihrer Klinik Patient war, jemanden lebensbedrohlich verletzt habe. "Bei uns werden viele Kinder vorgestellt, die in der Schule oder im häuslichen Umfeld fremdaggressiv geworden sind - das war schon immer so und ist nichts Neues", sagt Schmidts.
Mehr psychisch erkrankte Kinder
Eine drastische Zunahme beobachtet Schmidts jedoch nicht. "Was wir wahrnehmen, ist, dass die Anzahl der psychisch erkrankten Kinder insgesamt sehr stark gestiegen ist", sagt die Ärztin, die auch Gutachten für Staatsanwaltschaften und Gerichte zu Jugendlichen und Heranwachsenden, die Straftaten begangen haben, erstellt.
Sie vermutet, dass womöglich die Schwelle, eine Anzeige zu stellen oder ein Disziplinarverfahren an der Schule in Gang zu setzen, gesunken sein könnte und die Taten gar nicht unbedingt mehr sind.
Sie und ihre Kollegen stellen hingegen fest, dass "Schulen und das häusliche Umfeld, wie alle Systeme, mit denen wir zu tun haben, nicht mehr so belastbar sind".
Ursachen für straffällige Kinder vielfältig
Woran liegt es, wenn Kinder Straftaten begehen, schlimmstenfalls jemanden töten? Zunächst gebe es da sehr wenige Fälle, sagt Schmidts.
Es sei so, dass meist mehrere Ursachen zusammenwirken: "Das kann bei einer Mutter beginnen, die schon in der Schwangerschaft Stress hat und/oder dann eine schwierige Geburt, hinzu können schwierige Verhältnisse wie Gewalt oder eine psychische Erkrankung in der Familie kommen."
Zumal es einfach Kinder gebe, die sich schon im Kindergarten an Bedingungen nicht so gut anpassen können wegen ihres Temperaments.
Teufelskreis macht Entwicklung schwierig
Wenn sich Kinder dann mit dem Lernen in der Schule oder dem Stillsitzen schwertäten, entstehe schnell ein Teufelskreis: "Das Kind hat Schwierigkeiten, sich anzupassen und den Anforderungen gerecht zu werden, die Umgebung kann darauf nicht angemessen reagieren." Komme dann noch eine schwierige Peer-Gruppe in der Pubertät hinzu, sei die Entwicklung oft ungünstig.
"Wenn wir Kinder untersuchen, prüfen wir immer, ob es eine psychiatrische Erkrankung gibt, die relevant ist." Das sei aber nicht immer der Fall bei Fremdaggressivität: "Oft reicht schon eine erhöhte Impulsivität und eine erlebte Kränkung."
Stimmt die Altersgrenze von 14 Jahren noch?
Was Eisenreich fordert, ist zunächst eine Überprüfung der Altersgrenze. Die jetzige beruhe auf einer "langjährigen praktischen Erfahrung", so ein Sprecher aus dem Justizministerium. Es fehle aber an aktuellen gesicherten empirischen Daten.
Eisenreich fordert Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) auf, eine Studie in Auftrag zu geben.
Entwickeln sich Kinder wirklich schneller?
Schmidts stellt hingegen infrage, dass sich Kinder heute generell schneller entwickeln, man müsse sich immer den Einzelfall ansehen: "Es gibt Kinder, die sind ganz klein, und wissen ganz genau, was sie nicht dürfen. In anderen Familien wird der Umgang mit Grenzen und Regeln lockerer gehandhabt."
Sollen also aus Sicht von Eisenreich künftig Kinder möglicherweise in Haft kommen? Hierzu bleibt das Justizministerium vage: Eine Studie müsse sich auch damit auseinandersetzen, welche "geeigneten Sanktionen gegen Zwölf- und 13-Jährige verhängt werden sollen".
In besonders schweren Fällen könne es zudem sinnvoll sein, "früher erzieherisch mit dem Mittel des Jugendstrafrechts einzugreifen, um ein weiteres Abgleiten in Kriminalität zu verhindern", so Georg Eisenreich zur AZ.
Schmidts warnt: "Kinder brauchen einen Raum für Schutz und Entwicklung und sollen nicht niederschwellig im Gefängnis landen. Ich finde es schwierig, das primär juristisch zu klären. Eine differenzierte Betrachtung mit Einbezug aller Hilfssysteme ist erforderlich." Denn schon jetzt gelte, dass die Einflussfaktoren für Jugendliche in Haft sehr ungünstig seien – trotz Betreuung.
Überlastete Hilfesysteme
Schmidt kritisiert, dass die Hilfesystem schon jetzt überlastet seien: "Ein wichtiger Partner für uns ist die Jugendhilfe, aber auch die Polizei, gerade bei aggressiven Kindern. Die Möglichkeiten des Jugendamts mitzuhelfen sind aber deutlich reduzierter." Vermutlich auch, weil viele Stellen dort unbesetzt seien.
Alexandra Schreiner-Hirsch, Pädagogische Leitung beim Kinderschutzbund Bayern, spricht von alarmierenden Kriminalitätszahlen, die von allen "betroffenen Professionen gemeinsam" diskutiert werden müssten, sowohl zur Entwicklung der Kinder, als auch zum Wohle der Gesellschaft. Maßnahmen zur Intervention und Prävention seien unerlässlich, so Schreiner-Hirsch zur AZ.
Keine "Stammgäste im Gefängnis"
Handlungsbedarf sieht auch der Arbeitskreis Juristen in der CSU. Jedoch mit anderen Konsequenzen als sie Parteifreund Eisenreich fordert. Vorsitzender Winfried Bausback, der auch als Kandidat für das Bundesverfassungsgericht gehandelt worden war, letztlich aber nicht zum Zuge kam, fordert eine "Intervention nach einheitlichen Maßstäben".
Meist sei hier bei der Erziehung etwas falsch gelaufen, aus ganz unterschiedlichen Gründen. Aber Bausback sagt klipp und klar: "Es kann nicht darum gehen, Kinder ins Gefängnis zu sperren."
Stattdessen gehe es darum, dass solche Kinder später kein "Stammgast im Gefängnis" werden. Er will an der bestehenden Strafmündigkeit nicht rütteln, wohl aber an der Art der Aufarbeitung.
Es ist unbefriedigend für die Opfer von unter 14-Jährigen, wenn diese keine Strafe bekommen, das versteht auch Schmidts.
Einen Menschen umbringen und einfach so weiterleben, als sei nicht geschehen? Die Ärztin sagt, davon könne keine Rede sei. Und: "Dass diese gewalttätigen Kinder und deren Familien durch das Jugendamt und die Polizei engmaschig betreut werden, sollte gewährleistet sein, dass keine weitere Gefahr von den Kindern ausgeht."
Kriminalität bei Tätern und 14 Jahre 2023
In der Kriminalstatistik des Bundes für das Jahr 2023 sind 24 „Straftaten gegen das Leben“ ausgewiesen, die von Kindern unter 14 Jahren verübt wurden. Die
Ein Blick in die Zahlen zeigt einen Anstieg bei Tätern unter 14: Rohheitsdelikte wie Körperverletzung oder Raub haben laut Statistik 30.619 strafunmündige Täter begangen. In der bayerischen Kriminalstatistik der Polizei werden 3,2 Prozent mehr tatverdächtige Kinder ausgewiesen im Jahr 2023 im Vergleich zum Vorjahr. Im Vergleich zu 2019 sind es gar 43,4 Prozent mehr (nicht gelistet sind ausländerrechtliche Verstöße). Bei Gewaltkriminalität hat der Anteil von tatverdächtigen Kindern um 17,7 Prozent zugenommen seit 2022.