Gesine Schwan weckt müde Grüne

BERLIN - Freunde sind immer nützlich, das weiß auch Gesine Schwan. Die Kandidatin für das Bundespräsidentenamt gastierte auf dem Grünen-Parteitag - und brachte Stimmung in die arg geschäftsmäßige Wahlprogrammdebatte.
Gesine Schwan gibt die große Schmeichlerin: "Liebe Freundinnen und Freunde", schmiert die Bundespräsidentenkandidatin den Grünen Honig um den Mund, "eure lebendige Diskussionskultur braucht dieses Land, und deshalb tut ihr diesem Land sehr gut." Bei ihrem umjubelten Gastauftritt auf dem Grünen-Parteitag im Berliner Velodrom lobt Schwan das Bundestagswahlprogramm der Ökopaxe als "gut durchdacht" und verneigt sich - wohl ganz unironisch - vor der "unglaublichen Autorität, die eure Parteiführung jedenfalls bei mir hat".
Die kurze Rede der sozialdemokratischen Politikprofessorin ist Balsam auf die waidwund-oppositionelle Grünen-Seele. Die Delegierten beraten die einzelnen Kapitel ihres Wahlprogramms zwar gewohnt inbrünstig und ausführlich, beugen sich liebevoll über sehr viele Änderungsanträge. Leidenschaft und kämpferische Reden findet man diesmal aber nur selten, irgendwie wirken die Grünen gehemmt - als habe irgendwer ihnen den Autopiloten angeschaltet und gleichzeitig die Handbremse angezogen.
Die meisten der ursprünglich 1250 Änderungsanträge hatte die Parteitagsregie schon im Vorfeld abgeräumt, elegant in das Programm eingewoben, Kompromissforumulierungen erfunden. Die strittigen Abstimmungen auf dem Parteitag selbst, die noch übriggeblieben sind, werden geschäftsmäßig abgewickelt: Die Linken setzen sich fast in jedem Punkt durch, aber die Realos und Finanzexperten tragen jede Watschn mit Fassung.
Komplettumbau des Rentensystems
Jetzt versprechen die Grünen in ihrem Programm mal schnell den Komplettumbau des Rentensystems: Alle Erwachsenen mit Einkünften sollen in eine Bürgerversicherung einzahlen. Zudem soll es eine Garantierente für Geringverdiener und Langzeitarbeitslose geben. Den Gesundheitsfonds wollen die Grünen ebenso abschaffen wie die Praxisgebühr von zehn Euro. Der Hartz-IV-Regelsatz soll dafür auf 420 Euro angehoben werden, der Mindestlohn soll 7,50 Euro betragen, und für Kinder soll es eine eigene Grundsicherung geben. Wie das alles finanziert werden soll (Steuererhöhungen, mehr Schulden?), wird allenfalls verschämt und am Rande diskutiert. Dass die Grünen einmal die Speerspitze einer nachhaltigen, generationengerechten Finanz- und Haushaltspolitik waren, scheint sehr, sehr lange her zu sein.
Stattdessen zitieren gleich mehrere Redner stolz wie Oskar die "Wirtschaftswoche", die soeben die Parole "Grün aus der Krise" auf ihren Titel gehoben hat. "Grün dreht das!" lautet entsprechend selbstbewusst auch der aktuelle Parteitags-Slogan - und damit meint die Partei nicht etwa eine Aufholjagd bei den Umfragewerten, wo sie derzeit hinter FDP und Linken liegt, sondern einen "grünen neuen Gesellschaftsvertrag, der Klima, Arbeit, Gerechtigkeit und Freiheit miteinander verbindet". Mit einem Kurs der ökologischen Modernisierung wollen die Grünen in vier Jahren eine Million neue Arbeitsplätze schaffen.
Trittin spricht der großen Koalition Wirtschaftskompetenz ab
Von ihrem schulmeisterhaften Gestus und Auftreten her möchte man meinen, die Grünen seien in der nächsten Bundesregierung gesetzt - und müssten sich nur noch aussuchen, wen sie gnädigerweise künftig mit am Kabinettstisch dulden wollen. Spitzenkandidat Jürgen Trittin spricht Union und SPD rundweg jede Wirtschaftskompetenz ab: "Das ist der blanke Dilettantismus, der dieses Land regiert." Die FDP wiederum wolle nur ungedeckte Steuersenkungen.
Obwohl die Grünen in den Umfragen derzeit hinter der FDP und allenfalls gleichauf mit der Linken liegen, haben sich die Funktionäre im Vorfeld des Parteitags eine bizarre Koalitionsdebatte geleistet, die zum Abschluss des Konvents am Sonntag auch noch ganz offiziell auf der Bühne diskutiert werden soll: Rot-Rot-Grün wird hinter der Hand empfohlen (größte Schnittmenge bei den Programmen), die Ampel gequält tabuisiert (wenn halt nur der blöde Westerwelle nicht wäre) und Jamaika empört ausgeschlossen (wir wollen nicht der Steigbügelhalter für Schwarz-Gelb sein). Nicht wenige Delegierte sind ob dieser Koalitionsfarbenspiele ihrer Granden verbittert: "Wir haben nur Wums, Ampel und Jamaika, es ist zum Kotzen", sagte einer junger Grünen-Strippenzieher aus dem Berliner Landesverband der AZ. "Warum können wir unsere Inhalte nicht mal richtig kontrovers diskutieren."
Ein prominenter Altvorderer drückte seine Kritik vornehmer, aber nicht minder spitz aus - Ex-Parteichef Reinhard Bütikofer twitterte: "dpa: ,Trittin will Kapitalismus eindämmen'. Wie? Per Ampel? Mal sehen, wie weit die Rhethorik trägt."
MARKUS JOX