"Weltuntergangsgefühle": Diskussion um Sitzenbleiben an Bayerns Schulen 

Nur in Mecklenburg-Vorpommern drehen mehr Schüler Ehrenrunden als im Freistaat. Oppositionspolitiker und Lehrer-Verband halten das Vorgehen für sinnlos und warnen vor negativen Folgen für Kinder und Jugendliche. 
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Er hat das Klassenziel offenbar nicht erreicht: Ein kleiner Bub, der sitzengeblieben ist.
Er hat das Klassenziel offenbar nicht erreicht: Ein kleiner Bub, der sitzengeblieben ist. © Bernhard Classen\, via www.imago-images.de
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Wenn am 15. September in Bayern der Unterricht an den allgemeinbildenden Schulen wieder beginnt, werden sich etwa 15.000 Schüler in derselben Klassenstufe wie im Vorjahr wiederfinden. Mindestens 5000 weitere werden nur "auf Probe" versetzt. Das jedenfalls sind nach Angaben des Kultusministeriums die Zahlen des Vorjahres. Die Grünen im Bayerischen Landtag machen Front gegen das "Sitzenbleiben".

"Wissenschaftlich ist längst bewiesen, dass Sitzenbleiben nichts bringt", sagt die grüne Bildungsexpertin und gelernte Lehrerin Gabriele Triebel. Sie erhält Unterstützung der Präsidentin des Bayerischen Lehrer- und Lehrerinnenverbands (BLLV) Simone Fleischmann: "Sitzenbleiben ist ein Armutszeugnis für das bayerische Schulsystem."

Fordert, das Sitzenbleiben abzuschaffen:  die grüne Landtagsabgeordnete Gabriele Triebel.
Fordert, das Sitzenbleiben abzuschaffen: die grüne Landtagsabgeordnete Gabriele Triebel. © IMAGO/dts Nachrichtenagentur

Nur Mecklenburg-Vorpommern lässt mehr Schüler "durchrasseln"

Tatsächlich lässt kein anderes Bundesland so viele Schüler wegen schlechter Noten eine Klasse wiederholen wie der Freistaat – mit einer Ausnahme: Nach einer Bundesstatistik hat Mecklenburg-Vorpommern in Relation zur Schülerzahl noch mehr Schulkinder "durchrasseln" lassen. 2024 wiederholten dort 3,7 Prozent der Schüler eine Klasse, während es in Bayern 3,5 Prozent waren.

Im Bundesdurchschnitt hieß es für 2,2 Prozent aller Schüler – etwa 150.000 – zurück auf Anfang, allerdings für etliche davon auch auf freiwilliger Basis. Ganz am Ende der Wiederholer-Liste fanden sich Schleswig-Holstein (1,2 Prozent) und Berlin (0,9 Prozent). Hamburg hat das verpflichtende Sitzenbleiben seit 2009 abgeschafft. In Berlin erhalten Gymnasiasten mit schlechten Noten kostenlosen Förderunterricht.

Schulpsychologen wissen: Die obligatorische Wiederholung einer Klasse bedeutet für das betroffene Kind und dessen Familie Peinlichkeit, Stigmatisierung bis hin zu Weltuntergangsgefühlen. Die Gesellschaft reagiert nicht selten mit Unverständnis und Ablehnung. Im gesetzten Alter können vor allem Erfolgsmenschen dann eher unbeschwert über ihre "Ehrenrunden" plaudern. "Alles ist pädagogischer als Sitzenbleiben", sagt daher BLLV-Präsidentin Fleischmann.

Hält Ehrenrunden für nicht zielführend: BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann.
Hält Ehrenrunden für nicht zielführend: BLLV-Präsidentin Simone Fleischmann. © IMAGO

"Wiederholungsschleifen, die nichts bringen"

Für den Staat billiger würde es aber wohl nicht, falls das Sitzenbleiben gestrichen wird. Wenn etwa 20.000 Schüler in Bayern jährlich eine Klasse wiederholen, kostet das nach den Berechnungen der Grünen-Bildungspolitikerin Gabriele Triebel 240 Millionen Euro. Das Geld wäre in individuelle Förderung deutlich besser investiert statt in "Wiederholungsschleifen, die pädagogisch nichts bringen". Das Kultusministerium widerspricht der Gewinn- und Verlustrechnung grundsätzlich. Personal-, Raum- und Sachkosten fielen für den Schulbetrieb insgesamt an und könnten nicht einzelnen Schülern zugerechnet werden.

Wie auch immer: Wegen einer oder zwei schlechten Noten die ganze Jahrgangsstufe wiederholen zu müssen, mache pädagogisch keinen Sinn, so Fleischmann. Den "Schlüssel zum Erfolg" sieht die Lehrer-Präsidentin in "individueller diagnosegeleiteter Förderung in Kleingruppen und dem Stärken von Stärken". Lehrer, Schulpsychologen, Förderlehrkräfte und professionelles Lehrpersonal könnten das leisten, stünden aber nicht in ausreichender Menge zur Verfügung: "Der Lehrkräftemangel macht uns auch hier auf langer Strecke einen Strich durch die Rechnung", so Fleischmann.

"Einser-Abi für alle"

Nicht nur der Lehrermangel, auch die in Bayern regierende Koalition von CSU und Freien Wählern bremsen. Bereits vor zwölf Jahren zementierte der damalige CSU-Landesgruppenvorsitzende und heutige Bundesinnenminister Alexander Dobrindt bis heute unwidersprochen die CSU-Position: "Wir wollen in Bayern keine Gleichmacherei und Niveauangleichung nach unten." Als Nächstes werde die SPD, die sich damals gegen das Sitzenbleiben stark gemacht hatte, "wahrscheinlich das Einser-Abi für alle" fordern und wolle auch "das Durchfallen bei der Führerscheinprüfung abschaffen".

Die bayerische Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler).
Die bayerische Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler). © IMAGO/Rolf Poss

So krass formuliert die amtierende bayerische Kultusministerin Anna Stolz (Freie Wähler) ihre Position nicht. Sie lässt auf die Möglichkeit des Vorrückens auf Probe an den weiterführenden Schularten sowie die Nachprüfung an Real- und Wirtschaftsschulen sowie Gymnasien verweisen.

Eine Mehrheit der Deutschen will am Sitzenbleiben festhalten

"In begründeten Fällen jedoch", so das Kultusministerium, sei "das Wiederholen einer Jahrgangsstufe eine sinnvolle Maßnahme", um Schülern "eine erfolgreiche Fortsetzung ihrer Schullaufbahn zu ermöglichen. So bleibe die Möglichkeit bestehen, den angestrebten Abschluss an der jeweiligen Schulart doch noch zu schaffen. Das Nichterreichen des Klassenziels könne aber auch ein wichtiger Hinweis an Kind und Eltern sein, "einen Schulartwechsel in Erwägung zu ziehen".

Populär ist das Abschaffen des Sitzenbleibens offenbar nicht. Nach einer Umfrage der Plattform "PolitPro" aus dem Jahr 2023 waren 62 Prozent der Deutschen dagegen, 29 Prozent votierten dafür und neun Prozent zeigten sich unentschieden.

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