Hügenell: "Ich hab' nie meinen Mund halten können"

Giesing - Sie marschierte als SPD-Frau stundenlang durch Münchens Straßen: gegen das Abtreibungsverbot und gegen Gefängnisstrafen für Homosexuelle. Das war Anfang der 70er Jahre: "Ich habe immer gerne gekämpft", erklärt Inge Hügenell (89): „Außerdem hab’ ich nie meinen Mund halten können, wenn ich gemeint hab’, es ist wichtig“, fügt sie ziemlich münchnerisch hinzu.
24 Jahre lang ist die große Frau mit der schmalen Nase SPD-Stadträtin. Von 1972 bis 1996 schaut sie, dass in München aus ihren "sozialen Wünschen" etwas wird: "Ich habe für das erste Frauenhaus der Stadt getrommelt und für Obdachlosenheime. Und Heiligabend habe ich im Hofbräuhaus unseren Obdachlosen Spätzle serviert." Weiches Herz und konsequentes Engagement. Über 20 Ehrungen hat die Giesingerin im Laufe der Zeit eingeheimst: Die Medaille "München leuchtet" in Gold, den "Giesinger Bürgerpreis 2015" und das Bundesverdienstkreuz.
Noch gehört Inge Hügenell zum Bezirksausschuss Obergiesing-Fasangarten. Ihr größter Erfolg fürs Viertel: Die Giesinger haben ihr den Weißenseepark zu verdanken, der auch ihre liebste Oase ist.
Mit 89 Jahren ist Inge Hügenell Münchens älteste aktive Stadtteil-Parlamentarierin. Nach einem Beckenbruch wohnt sie inzwischen im Altenheim an der Tauernstraße in Harlaching. Ihre Wohnung ohne Lift in der Obergiesinger Wieskirchstraße muss sie aufgeben, weil sie im Moment keine Treppen steigen kann. "Meine Mitbewohner im Heim sind zu 70 Prozent dement. Mein größter Wunsch ist, wieder in eine eigene Wohnung zu ziehen", sagt Inge Hügenell.
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Bis heute sitzt die 89-Jährige im Aufsichtsrat des "Münchner Ledigenheims" im Westend. Hier wohnen 348 Männer in Wohnkammern von nur sieben Quadratmetern. Hügenell bittet die AZ-Leser um Spenden, damit das Haus in der Bergmannstraße endlich renoviert werden kann.
Speziell Obdachlosen und Frauen, die Hilfe brauchen, gehört ihr Herz: "Ich schaue auf die Leute mit Schwierigkeiten", sagt sie: "Das habe ich wohl von daheim. Mein Vater war Sozialdemokrat. Meine Mutter wirkte kühl, war aber hilfsbereit bis zum geht nicht mehr." Vielleicht gerade wegen ihres harten Schicksals.
Hügenells Eltern, Baltendeutsche aus Lettland, waren sieben Jahre als Flüchtlinge in Deutschland unterwegs ("Die hatten auch keine Wohnung, die waren auch obdachlos"). Bis sie in der Rosenheimer Straße, im Keller unter einer Sauerkrautfabrik, ein Zimmer bekamen: "Da haben wir zu dritt gehaust. Da bin ich auf die Welt gekommen. Die Ameisen liefen die Wände rauf und runter – und das Wasser auch. Es war entsetzlich!" Ihre politische Arbeit beginnt, als sie 1947 als Sekretärin beim Deutschen Gewerkschaftsbund anfängt. Sie kann gut reden, arbeitet an der Zeitung mit und tritt der IG Metall bei. Jetzt kann sie eine Gewerkschafts-Urkunde herzeigen – für ihre über 60-jährige Mitgliedschaft.
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Aus gesundheitlichen Gründen wird Inge Hügenell ihre Arbeit im Bezirksausschuss 17 am Dienstag aufzugeben. Die fünfstündigen Sitzungen jeden Monat sind ihr einfach zu lang. "Du musst doch wieder reden, so wie früher", sagen ihre Freunde von der SPD: "Aber Mensch Maier, das hat doch keinen Sinn mehr", bedauert Hügenell: "Jetzt sollen mal die jungen Leute ran."
Auch wenn sie sich aus der Stadtviertel-Arbeit für Obergiesing verabschiedet, der Münchner SPD bleibt Inge Hügenell treu: "Aus der SPD trete ich nie aus. Die SPD ist sozial. Die SPD ist die Partei, die etwas für die Leute tut. Das kommt nur bei den Bürgern nicht mehr richtig an. Und die Grünen haben Umweltpolitik nicht erfunden, sondern von der SPD übernommen!"
Gut für München: Die Kämpferin mit dem blauen Seidentuch und den zarten Händen hat ihre extra-starke soziale Ader in gewisser Weise zumindest weitergegeben – an ihre drei Kinder: Inge Hügenells älteste Tochter leitet die Münchner Sozialbürgerhäuser, ihr Sohn arbeitet im Wohnungsamt – und die Jüngste ist Journalistin geworden.