Missbrauch im Münchner Kinderheim: Welche Hilfen die Stadt für Betroffene plant

Opfer von Gewalt in Kinderheimen können Hilfe bekommen, doch viele wissen davon nichts. Eine Kampagne der Stadt München soll nun darauf aufmerksam machen
Anna-Maria Salmem |
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Ignaz Raab, Carola Baumgartner, Klaus Hirschvogel und Benno Oberleitner vom Betroffenenbeirat und BM Verena Dietl.
Ignaz Raab, Carola Baumgartner, Klaus Hirschvogel und Benno Oberleitner vom Betroffenenbeirat und BM Verena Dietl. © Michael Nagy/LHM

München - Es sind oft Wut und Trauer, die Vroni Groß vom Kinderschutz München eigenen Worten zufolge in den Schilderungen ihrer Gesprächspartner erlebt. Manche sind verzweifelt, schämen sich. Alle möglichen Emotionen können aufkommen, wenn Betroffene von Gewalt und Kindesmissbrauch von ihren schrecklichen Erfahrungen berichten – auch wenn die Taten schon Jahrzehnte zurückliegen.

Aber auch Erleichterung kann ein Gespräch bringen, weiß Groß. Wenn die Betroffenen zur Anlaufstelle beim Kinderschutz München kommen, sei es für manche das erste Mal, dass sie überhaupt über ihre Erlebnisse reden. "Manche sprechen das nicht einmal in ihrer Partnerschaft an", sagt Groß. Traumatische Erinnerungen verdränge man häufig.

München: Stadt stellt finanzielle Mittel für Opfer von Gewalt in Kinderheimen bereit

Um dem entgegenzuwirken, bemüht sich bereits seit eineinhalb Jahren eine unabhängige Expertenkommission gemeinsam mit einem Betroffenenbeirat um die Aufarbeitung von jeglicher Art von Gewalt, die Kinder und Jugendliche seit 1945 in Heimen, Pflege- oder Adoptionsfamilien erleben mussten, in die sie vom Stadtjugendamt geschickt worden waren.

Wichtiger Bestandteil der Kommissionsarbeit ist die unmittelbare Unterstützung Betroffener: Sie erhalten Beratung durch qualifizierte pädagogische und psychologische Fachkräfte und haben oftmals Anspruch auf finanzielle Soforthilfen. 3,3 Millionen Euro stellt die Stadt für diese Zahlungen bereit.

Bürgermeisterin Verena Dietl will die Hilfen mit einer Kampagne bekannt machen

Doch viele wissen von der Möglichkeit nichts, sagt Bürgermeisterin Verena Dietl (SPD). Mit einer Kampagne wollen Expertenkommission und Betroffenenbeirat das Thema nun in den Fokus rücken.

Über mehrere Monate sollen Plakate in U-Bahnen und an Bahnhöfen in ganz München zu sehen sein. Zudem hat man 10.000 Flyer drucken lassen, die über die Arbeit der Kommission informieren sollen. Sie werden unter anderem in Jugendämtern und ähnlichen Einrichtungen ausgelegt, aber auch in Obdachlosenunterkünften. 50.000 Euro lässt sich die Stadt die Kampagne kosten.

Kindesmissbrauch: Über 60 Betroffene haben Soforthilfen bekommen

Seit die Kommission ihre Arbeit aufgenommen hat, haben sich 70 Betroffene an die Anlaufstelle gewendet, sagt Kommissionsleiter Ignaz Raab. Weit mehr als 60 von ihnen hätten bereits Soforthilfen ausgezahlt bekommen.

Die meisten der Hilfesuchenden kamen aus München und Bayern, doch Raab berichtet auch von einer Meldung aus Südostasien. Der Betroffene wohne mittlerweile dort und habe über das Internet vom Engagement der Kommission erfahren.

Missbrauch in Münchner Kinderheimen: "Gehen von einer größeren Anzahl an Betroffenen aus"

Ein Erfolg, doch Schluss ist damit noch lange nicht: "Wir gehen von einer weitaus größeren Anzahl an Betroffenen aus", sagt Raab. Denn seit 1945 hat das Stadtjugendamt mehrere Tausend Kinder in verschiedene Einrichtungen geschickt. Die Dunkelziffer der Gewaltopfer unter ihnen dürfte hoch sein. Dass sich noch nicht mehr Betroffene gemeldet haben, kann mehrere Gründe haben. Zum Teil habe man sie vielleicht einfach noch nicht erreicht, vermutet Raab.

Klaus Hirschvogel, stellvertretender Vorsitzender des Betroffenenbeirats, hält einen weiteren Grund für denkbar: "Wenn man als Kind Gewalt erfährt, ist das schambehaftet. Das lässt sich auch im Erwachsenenalter nicht so leicht auflösen." Die Kampagne kann für den ein oder anderen den Anstoß bringen, sich zu trauen und auf die Anlaufstelle zuzukommen, davon ist Hirschvogel überzeugt. "Wir geben den Betroffenen ein Gesicht, sind direkte Ansprechpartner und wissen, wovon die Rede ist. Das kann die Hemmschwelle senken."

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Leid der Gewaltopfer "muss ins Bewusstsein von uns allen rücken"

Zudem sei es zentral, den Gewaltopfern zu signalisieren, dass sie nicht allein sind, fügt Raab hinzu. Darauf legt auch Carola Baumgartner großen Wert, stellvertretende Vorsitzende der Expertenkommission. "Wir wollen mit der Kampagne auch die Thematik als solche in die Mitte der Gesellschaft bringen. Das Leid, das diese Menschen erlebt haben, muss ins Bewusstsein von uns allen rücken."

Entschädigen könne man derartige Gewalttaten zwar nie, schon gar nicht ungeschehen machen. Dennoch müsse die Gesellschaft dafür einstehen, dass solche Missstände nicht mehr vorkämen. Denn wer in seiner Kindheit Gewalt erlebt hat, habe oft sein ganzes Leben damit zu kämpfen. "Die Antragsteller von heute sind zwar Erwachsene, aber damals waren es Kinderseelen, die geschädigt wurden", sagt Baumgartner.

Universität beteiligt sich an der Aufarbeitung

Die Stadt zeigt nicht nur mit der Kampagne durchaus ein großes Bestreben, die dunkle Vergangenheit aufzuarbeiten – das sagt auch Historiker Felix Berth, der zur Geschichte von Säuglingsheimen in der Nachkriegszeit geforscht hat und in seinem Buch die damaligen gravierenden Missstände beschreibt. Doch eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Gewalt in Heimen hat bislang noch nicht stattgefunden, obwohl sie bereits seit Längerem geplant ist.

Auch in dem Säuglingsheim, das früher an der Streitfeldstraße 1 untergebracht war, wurden Kinder vernachlässigt.
Auch in dem Säuglingsheim, das früher an der Streitfeldstraße 1 untergebracht war, wurden Kinder vernachlässigt. © Bernd Wackerbauer

Die Stadt habe dafür zwar bereits die verpflichtende Ausschreibung durchgeführt, erläutert Raab. Rückmeldungen von Universitäten oder Forschern habe es allerdings nicht gegeben. Man habe daher direkte Gespräche gesucht – wohl mit Erfolg: "Wir haben ein sehr gutes Angebot von einer Universität erhalten", sagt Raab. Das Thema ist also weiterhin auf der Agenda.

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  • Eljas am 31.07.2023 00:35 Uhr / Bewertung:

    Das Münchner Waisenhaus darf man sicherlich ebenso zu den "Kinderheimen" zählen. Von körperlichen Mißhandlungen mal abgesehen, sollten die psychischen Mißhandlungen ebenso aufgearbeitet werden. Nur ist von der damaligen Exekutive nun niemand mehr am Leben.

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