Homosexuell in Russland: Schritt für Schritt in die Freiheit
München - "Normal" ist in Russland die klassische Familie: Vater, Mutter, Kind. Wenn das Kind irgendwann merkt, dass es schwul oder lesbisch ist, hat es ein Problem.
Kamil Safin lebte mit seinen Eltern und seinem Bruder in der Millionenstadt Ufa. Er ist Tatare, die Eltern sind Muslime. Seine Kindheit bezeichnet er als glücklich. "Wir waren wohlhabend und mich hat alles interessiert. Ich war ein Streber", beschreibt er die Zeit. Für ihn gab es jahrelang nur die Schule, Bestnoten und Zuhause.
Schwuler Russe in München: "Mit 14 dachte ich, dass man ein Kondom essen muss"
Das andere - und auch das eigene - Geschlecht haben ihn lange nicht interessiert. Über das Thema Sexualität wurde weder daheim gesprochen, noch in der Schule. Aufklärungsunterricht, wie wir ihn in Deutschland kennen, gibt es nicht. Trotz seiner guten Bildung wusste Kamil nicht, wie Fortpflanzung funktioniert. "Mit 14 dachte ich, dass man ein Kondom essen muss", erzählt er und lacht. Aber er meint es ernst.
Künstlerin in Russland wegen "Homosexuellen-Propaganda" verurteilt
Was er wusste: "Schwuchtel" ist eins der schlimmsten Schimpfwörter überhaupt. Aber darüber hat er sich keine Gedanken gemacht. Er wusste nur, dass er irgendwie anders war als die anderen. Und wenn er gefragt wurde, hat er einfach erzählt, dass er eine Freundin hat und fertig. "In Russland muss man sehr vorsichtig sein", erzählt Kamil, "jede Person kann wegen Extremismus verurteilt werden." Zum Beispiel wurde die Künstlerin Yulia Tsvetkova unter anderem für die Verwaltung der feministischen Webseite "Vagina Monologe" für schuldig befunden, "Homosexuellen-Propaganda" zu betreiben.
Nach dem Abitur studierte Kamil Anglistik und wollte Englischlehrer werden. An der Uni begann so langsam seine Liberalisierung: "Plötzlich habe ich gesehen, dass es noch eine Welt gibt!" Mit 19 war er das erste Mal in London. Dort ging er in Bars, schaute sich Serien an, lernte viele Menschen kennen und hatte langsam das Gefühl: Er muss raus aus Russland. In England musste er keine Geschichten erfinden, um akzeptiert zu werden. Es hat einfach niemanden interessiert.
Wieder zurück an der Uni in Russland fing er an, Freunden zu erzählen, dass er "anders" ist. Manche nahmen es gut auf, andere weniger.
"Ganz tief in mir drin bin ich selbst homophob", sagt Kamil von sich
Aber das russische Wort für "schwul" kommt ihm bis heute nicht über die Lippen. "Irgendwo tief in mir drin bin ich selbst noch homophob, das kann man nicht so einfach abstellen", sagt er. Sein Vater ist inzwischen gestorben. Seine Mutter weiß bis heute nicht, dass ihr Sohn schwul ist. Sie fragt ihn nicht, aus Angst vor der Wahrheit.
Seit 2012 lebt Kamil in München. Aber ein richtiges Coming-out hatte er bis heute nicht. Er lebt glücklich mit seinem Mann zusammen, und doch: Wenn er in Russland ist, lügt er die Leute an, erzählt Geschichten.
Selbst vor vielen Russen, die hier in München leben, outet er sich erst, wenn er sichergestellt hat, dass sie aufgeschlossen sind. Sie wurden immerhin ähnlich sozialisiert wie er selbst, deshalb ist er bei Begegnungen vorsichtig.
Die jahrelange mentale Unterdrückung kann niemand - auch er nicht - so einfach abstellen. Sie sitzt tief.
Jeder Schritt ist eine Überwindung, aber Kamil engagiert sich
Um die Aufgeschlossenheit Osteuropas voranzutreiben, engagiert er sich sozial. Er ist Vorstand des Vereins Ahoj Nachbarn und unterstützt die LGBTIQ*-Organisation "Munich Kyiv Queer" (München Kiew queer) . 2018 ist er zum ersten Mal beim CSD Pride Walk mitgelaufen. Jeder Schritt ist für Kamil noch immer eine kleine Überwindung. Aber es wird einfacher. Und wenn er das schafft, schaffen das andere auch.
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