Historische München-Bilder: Untergegangenes Untergiesing
Kein Zweifel, die Schwabingisierung weiter Teile Untergiesings schreitet voran. Das spürt nicht nur, wer im alten Arbeiterviertel eine bezahlbare Wohnung sucht. Es ist auch an dicken Autos, großen Sonnenbrillen und teuren Kinderwagen zu erkennen.
Und doch: Es gibt ihn noch, den alten Charme. Die einfachen Boazn, die ganz normalen Münchner, die anderswo in der Stadt schon lange kaum noch zu finden sind. Und: Hier gibt es auch besonders viele junge Zugezogene, die sich mit dem Viertel und seiner Identität verbunden fühlen – so ist zumindest immer wieder zu hören.
Für sie alle, die alten Giesinger und die, die ihre Liebe zum Viertel gerade erst entdecken, ist jetzt im rührigen Volk Verlag ein ganz wunderbares Buch über Geschichte und Gegenwart Untergiesings erschienen. Viele, viele eindrückliche Fotos sind darin zu sehen von alten Fabriken, dörflichem Leben, den Herbergshäusln. Und Geschichten dazu, aus einem Viertel am Wasser, das so nicht mehr existiert, einem untergegangenen Untergiesing.
Unterwegs in der Birkenau
Einer dieser Orte, an dem sich mit ein bisserl Fantasie noch spüren lässt, wie Untergiesing (das damals noch gar nicht so hieß) einmal war, ist die Birkenau, wo man heute noch zwischen kleinen Häusern auf Kopfsteinpflaster spaziert.
Wie ärmlich es hier einst zuging, zeigt zum Beispiel diese Episode aus dem Buch. Im Jahr 1842 wandten sich Bewohner an die zuständige Gemeindeverwaltung von Obergiesing. "Wir ergebenst Unterzeichnete Gemeindenglieder der Kolonie Birkenau sehen uns nothgedrungen, dringends um Herstellung des ehemaligen Geh- und Fahrwegs von Birkenau bis zur Loh zu bitten", heißt es darin. "Dieser sogenannte Weg liegt schon seit 1 1/2 Jahren verwahrlost und so tief gegen die anstoßend höher ligenden Wiesen, daß er bei Regen und Schnee nur einem Wassergraben gleicht, der Tags nur mit Vorsicht, des Nachts aber gar nicht zu passiren ist."

Der Schmutz sei oft "über Schuh tief" und man bitte darum, "uns nicht ganz und gar versinken zu lassen, zumal auch kleine Kinder bis zur Schule nach Giesing durch diesen Weg watten müssen". Ganz explizit schreiben die Bewohner: "Wenn wir gleich meistens arme Tagelöhner sind, so wird man uns doch neben der harten Arbeit einen Weg zukommen lassen, daß wir unsere Kreutzer dem Wirth, Bäcker, Metzger etc. in Giesing zu lösen geben können."
Auch heutige Verhältnisse lassen sich durch das Buch besser verstehen
Von solchen Verhältnissen ist man heute – glücklicherweise – weit entfernt. Und doch gibt das Buch auch Hinweise, die die Verhältnisse 2022 besser verstehen lassen. Etwa diesen: Dass es viele kleine Lokale rund um die Birkenau gibt, hat Tradition, einst waren es sogar noch deutlich mehr. "Die ausgeprägte Gaststätten-Landschaft war kein Wunder, veranlasste doch die Enge der kleinen Häuschen und Wohnungen namentlich die Mannsbilder zur häufigen Flucht in ihre Stammwirtschaft."
Willibald Karl: Untergiesing. Am Wasser gebaut, 160 Seiten, Volk Verlag, 22 Euro
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